Samstag, 22. Mai 2021

Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig

Erscheinungsdatum: 01.02.2021    
Verlag: Argon
ISBN: 9783839818527
Hörbuch
Dauer:
6 Std. 46 Min.
  
Hörprobe


Meine Bewertung: 
 4 von 5 Punkten 




Inhalt: Trauriger kann ein Leben gar nicht sein. Nora Seed sieht auf die Scherben ihres Lebens und ist dessen überdrüssig. Ihr Job wird ihr gekündigt und als ihre Katze tot auf der Straße gefunden wird, ist die Verzweiflung so groß, dass sie sich gegen das Leben entscheidet. Aber statt zu sterben, führt sie ihr Weg in die Mitternachtsbibliothek. Dieser Ort ist gefüllt mit all den Möglichkeiten, die sich Nora in ihrem Leben ergeben haben, die sie aber nicht gewählt hat. Da in der Bibliothek die Zeit still steht, kann Nora jedes ihrer nicht gewählten Leben auswählen, um das für sie richtige zu finden.

Matt Haig widmet sich einer Frage, die sich jeder im Leben schon mindestens einmal gestellt hat: "Was wäre wenn ..." Auch wenn es nicht immer so dramatisch wie bei Nora im Leben endet, steht diese Frage doch häufig im Raum. Wer würde nicht gern einmal die Chance haben, die verpassten Wege und Möglichkeiten zu betrachten. Im Hörbuch wird dieser Roman von Anette Frier mehr als gekonnt, lebendig und glaubhaft gelesen. Sie gibt Nora Seed eine Stimme. 

Die Grundstimmung des Romans ist melancholisch und traurig. Eine junge Frau, die in ihrer Jugend voller Träume und Möglichkeiten war. Sie träumte vom Erfolg in einer Musikband, von Schwimmrekorden und der großen Liebe. Nichts von allem konnte sie in die Tat umsetzen und wurde zudem noch von familiären Schicksalsschlägen getroffen. Der zu frühe Tod von Mutter und Vater und die Abwendung vom großen Bruder hat ihr den Halt genommen. 

Umso spannender wird es, als Nora versucht, sich das Leben zu nehmen und in einer Bibliothek voller Bücher landet, die von ihrer vertrauten Schulbibliothekarin verwaltet werden. Mit ihrer Hilfe springt Nora in immer andere Leben, die sie hätte leben können. Sie ist Gletscherwissenschaftlerin, Popstar, Schwimmsportlerin, Ehefrau und lebt auf unterschiedlichen Kontinenten. Ihre Familienmitglieder und Freunde haben darin immer andere Gewichtungen oder existieren dort gar nicht. Doch eines tritt früher oder später immer ein, Nora springt zurück in die Mitternachtsbibliothek, weil ihr Leben auf die ein oder andere Weise für sie nicht das richtige Leben ist.  

Auch wenn es manche Passagen mit zu viel Länge oder arg übertriebener Handlung gab, hat mich dieser Roman berührt. Noras unglückliche Suche nach dem perfekten Leben spiegelt so sehr den Wunsch, den viele in sich tragen. Dabei vergessen wir oft, uns auf das Nächstmögliche zu konzentrieren. Die kleinen Glücksmomente im Leben, die einen glücklich und zufrieden zurücklassen und täglich sichtbar werden, wenn man nur die Augen dafür öffnet. 

Dienstag, 18. Mai 2021

Der erste letzte Tag von Sebastian Fitzek

Erscheinungsdatum: 28.04.2021    
Verlag: Argon 
ISBN: 9783839819104
Hörbuch
Laufzeit:
4 Std. 24 Min.
  
Hörprobe

Meine Bewertung: 
3,5 von 5 Punkten 






Inhalt: Per Flugzeug will Livius Reimer von München nach Berlin, doch der Winter macht ihm einen Strich durch die Rechnung - der Flug wird gestrichen. Eben hat er im Flugzeug noch eine junge, streitlustige Frau beim Kampf ums Bordgepäck beobachtet, jetzt sitzt er mit ihr zusammen in einem Mietwagen auf dem Weg nach Berlin. Lea von Armins Art nervt ihn, doch ihren Vorschlag, gemeinsam ein Experiment zu wagen, nimmt er an. Ein schräges Roadtrip-Abenteuer nimmt seinen Lauf.

Autor Sebastian Fitzek wagt sich mit diesem Roman heraus aus seinem gewohnten Thriller-Fahrwasser. Die Handlung hat man so oder ähnlich schon mal gelesen. Zwei gestrandete unterschiedliche Personen am Flughafen versuchen an ihr Ziel zu gelangen und erleben haarsträubende Momente.  

Hauptprotagonist Livius wirkt alles andere als zielstrebig und organisiert. In Berlin will er ein Sachbuch an einen Verlag verkaufen und gleichzeitig seine gescheiterte Ehe durch ein Beratungsgespräch retten.

Reisebegleitung Lea von Armin erscheint als Tochter aus gutem Hause immer ihren Willen zu bekommen, und so manipuliert sie von Anfang an Livius Verhalten. Lea schlägt Livius während der monotonen Autobahnfahrt vor, diesen Tag so zu verbringen, als wäre es ihr letzter Tag. Was dann folgt, ist eine mehr als absurde Verkettung von unglaubwürdigen Erlebnissen, die mancher in seinem ganzen Leben nicht erleben wird.  

Lea bestimmt und Livius folgt ihr. Für mich war der überzogene Humor und Livius willenlose Zustimmung der Handlungen nicht nachvollziehbar. Besonders der Aufenthalt in einer wodkavernebelten Sauna mit einem mehr als skurrilen Masseur war mir zu viel des Guten. 

Erst am Ende konnte ich durch einen Wandel in der Handlung die ein oder andere Reaktion besser deuten. Die Stimmung wird ruhiger und die Protagonisten handeln bewusster. Bis hierher hätte der Autor mich aber fast verloren. Bis auf das Ende Es fehlte mir ein Handlungsfaden, dem man folgen konnte. Leas Ideen sind spontane, sprunghafte Eingebungen, die ihr offensichtlich beim Scrollen durchs Smartphone erscheinen. 

Tatsächlich hat mich die Stimme des Hörbuchsprechers Simon Jäger durchhalten lassen. Seine Vermittlung einer spürbaren Lebendigkeit war ein Pluspunkt, der mir beim Lesen gefehlt hätte.

Wer kurzweilige Unterhaltung mit stark aufgetragenem Humor mag, sollte zugreifen.

Donnerstag, 6. Mai 2021

Ach, Meno! von Ellen Cornely-Peeters und Ulrike Bremm

Erscheinungsdatum: 06.05.2021    
Verlag:
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 9783462001181
Flexibler Einband
Seiten:
352
  
Leseprobe



Meine Bewertung:
  5 von 5 Punkten 




Inhalt: Ein vielseitiger und detaillierter Ratgeber auf dem Weg in eine neue Lebensphase Wenn man plötzlich das Gefühl hat, glühende Kohlen unter dem Stuhl zu haben und sich dies mehr als der Vorbote der Hölle als ein laues Urlaubslüftchen anfühlt, dann stellt sich die Frage: Wechseljahre? Vieles kennt man nur vom Hörensagen. Man selbst ist ja noch nicht betroffen, ist noch nicht alt. Mich hat es tatsächlich "eiskalt" heiß erwischt und just in diesem Moment hatte ich das Glück, diesen Tour-Guide durch die Wechseljahre zu finden.

Die Wechseljahre-Beraterin Ellen Cornely-Peeters hat einen sehr detaillierten und interessanten Ratgeber geschrieben, der anschaulich durch Fallbeispiele, Hilfestellungen zur Selbsthilfe, Ernährungsratgeber und Fitnessanregungen ein breit gefächertes Spektrum an Informationen bereithält.

Vor allem tut es gut, dass man mit diesen Symptomen nicht allein ist. Laut Autorin sind es 16 Millionen Frauen zwischen 38 und 65 Jahren. Ob es um Probleme mit dem Ein- und Durchschlafen oder Gelenkschmerzen geht, hier kennt sich jemand aus und gibt nachvollziehbare und verständliche Tipps. 

Besonders hilfreich für schnelle Hilfe ist das im Anhang zu findende Glossar mit den 100 meistgestellten Fragen & Antworten rund um die Wechseljahre.

 "Früher oder später begeben sich alle Frauen auf die Reise. Jede auf ihre Weise, in ihrem eigenen Tempo, mit ihren ganz persönlichen Erlebnissen. Auch wenn gefühlt nie die (richtige) Zeit für die Wechseljahre ist."

Gezielt kann man sich auch einzelne Kapitel herausgreifen und wird ausführlich informiert. Eine Prise Humor darf bei all den sachlichen Betrachtungen nicht fehlen. Vor allem wird mit dem Negativimage der Übergangszeit abgerechnet. Wir dürfen so sein wie wir sind, denn unser Körper bestimmt, wo es lang geht. Oder wie die Autorin schreibt: "Das Ende deiner Tage ist nicht das Ende aller Tage."


Mittwoch, 5. Mai 2021

Die Erfindung der Sprache von Anja Baumheier

Erscheinungsdatum: 16.02.2021    
Verlag: KINDLER
ISBN: 9783463000237
Fester Einband
Seiten:
496
  
Leseprobe


Meine Bewertung:
 4,5 von 5 Punkten 





Inhalt: Der 32-jährige Adam, Doktor der Sprachtheorie und angewandten Sprachwissenschaft wird aus seinem geradlinig geregelten Leben katapultiert. Durch eine zufällige Sichtung eines Buches erstarrt seine Mutter und durch den Schock spricht sie nicht mehr. Adams vermeintlich verschollen und für tot gehaltener Vater Hubert lebt offensichtlich noch. Um sich Klarheit zu verschaffen und seiner Mutter zu helfen, macht sich Adam, der sich lieber mit Koffern und Leuchtreklametafeln als mit Menschen unterhält, auf eine verrückte Reise durch Deutschland, Prag und die Bretagne.

Anja Baumheier spielt gekonnt und emotionsvoll in zwei Zeitsträngen mit der Sprache. Mal ernst, wissenschaftlich - jetzt weiß ich, was ein Onomatopoetikum ist - und ruhig, dann wieder ausgelassen, überladend, humorvoll. Ihre Charaktere sind so bunt wie das Leben und grundweg sympathisch, liebenswert.

Bei Oda - Adams Mutter - sind es die Hände ihres Ehemannes, die ihr seine Stimmung vermitteln. "Sommernachtswarm, sandpapierrau und wohlig". Als Leser wartet man förmlich darauf, dass die beiden sich an den Händen fassen, um ihre Gefühlslage zu erkennen.  

Gedichte von Rilke untermalen die Stimmung, besonders wenn es dramatisch und emotional wird, genauso wie meteorolische Wolkenbetrachtungen (eine düstere Altocumuluswolke) diese noch unterstreichen. Etwas schräg trägt Adam eine innere Leuchtreklametafel mit sich herum, die ihn immer wieder mit bissigen Bemerkungen drangsaliert. 

Adam geht einem ans Herz. Der hochintelligente, aber menschenscheue Mann mit autistischen Zügen kommt nur mit präzise definierten Listen - immer mit sieben Punkten - durchs Leben. Ihn zu begleiten und seine Zerrissenheit zu erleben, wie er sich nach dem Alltäglichen zurücksehnt und gleichzeitig das Neue und Unerwartete schätzen lernt, ist unglaublich unterhaltsam und gleichzeitig berührend. Seine Familie gibt ihm immer wieder Halt und vor allem die wundervolle Großmutter Leska mit ihrem herrlichen Dialekt und ihrer übers Telefon brodelnden Herzlichkeit steht ihm bei.  

Die Autorin hat es in einigen Passagen zu gut mit der Sprache gemeint und zeilenweise wunderschöne, aber anstrengend viele Beschreibungen eingefügt:

 "Die Stimmung legte sich auf urige Wanderwege, knorrige Wurzeln, felsiges Granitgestein, schroffe Täler, verwitterte Bohlenstege, zauberhafte Fichten, märchenhafte Buchen, verführerische Moore, hurtige Stromschnellen, muntere Haubenmeisen und dunkelgraubraune Sperlingskäuze."

Das fulminante Ende schießt ein wenig über das Ziel hinaus, sorgt aber für ein gutes Gefühl und ein Lächeln. Mich hat dieser herzenswarme Roman, der ein Statement für Familie und Liebe setzt, sehr unterhalten.

Dienstag, 4. Mai 2021

Der Schneeleopard von Sylvain Tesson

Erscheinungsdatum: 23.03.2021    
Verlag: Rowohlt TB
ISBN: 9783498002169
Fester Einband
Seiten:
192
  
Leseprobe





Meine Bewertung: 
  4 von 5 Punkten 

Inhalt: Es gehört schon eine Portion Verrücktheit oder Naturliebe dazu, sich auf 4000 Metern Höhe bei minus 30 Grad stundenlang auf die Lauer zu legen. Die Suche nach dem Schneeleoparden führt den Schriftsteller und Reisenden Sylvain Tesson an der Seite des bekannten Tierfotografen Vincent Munier nach Tibet. Was als Abenteuer in einer unglaublich eindrucksvollen Natur beginnt, wandelt sich mehr und mehr zu philosophischen Betrachtungen fern aller Zivilisation.

Sylvain Tesson gelingt es, die abenteuerliche Fotoexpedition des Fotografen Vincent Munier in einer ungewöhnlich stillen und philosophischen Art zu schildern. Wer eine Tierdokumentation oder Details über den Schneeleoparden erwartet, darf das Buch getrost zur Seite legen, denn viel wird man über das Tier nicht erfahren.

Vielmehr widmet sich der Autor der Reise an sich. Die Zurücklassung der Zivilisation mit all seiner Hektik, den urbanen Bedürfnissen oder Bindungen. In Tibet ist man Mensch in einer rauen, ehrlichen Natur. Die wenigsten von uns werden jemals in solche Regionen gelangen oder sich solchen körperlichen Belastungen aussetzen. Für mich unvorstellbar, sich über Stunden in einer Höhle bei utopisch kalten Gradzahlen zu verschanzen, um einen Blick auf eines der seltensten Tiere überhaupt werfen zu können. Vier Menschen, ein Fotograf, eine Filmemacherin, ein Assistent und der Autor über Wochen auf sich selbst gestellt im eisigen Nichts.

 "Die Temperatur machte alles unmöglich: Bewegungen, Worte, Melancholie. Wir waren bestenfalls in der Lage, mit dumpfer Hoffnung den Tag zu erwarten. ... Die Welt war gefrorene Ewigkeit."

Besonders interessant finde ich die Betrachtungen von Vincent Munier. Ein Mensch, der sich offensichtlich wohler in der Natur als unter Menschen fühlt. Durch seine Erfahrung als Fotograf und Beobachter bekommt man eine neue Sichtweise auf die Tiere und ihr Verhalten. Man fühlt sich hineingezogen in diese besondere Stimmung, wenn Yaks über die Ebenen ziehen, ein Wolfsrudel heult oder Wildesel davonpreschen.

 "Und wir standen hier, in diesem gleißend hellen, morbiden Garten des Lebens. Munier hatte uns gewarnt, es sei das Paradies bei -30 °C. Das Leben verdichtete sich: geboren werden, laufen, sterben, verwesen, in einer anderen Gestalt wiederkehren."

Bei all der Einsamkeit und Warterei kann man Tessons philosophische Betrachtungen nachvollziehen und verstehen. Wer würde die Welt nicht mit anderen Augen sehen, wenn sie so ursprünglich und klar vor einem liegt. Vieles berührt oder macht nachdenklich. Manchmal verliert sich der Autor allerdings auch in seinen Ausführungen. Eine verflossene Liebe vergleicht er mit dem Schneeleoparden und widmet ihr mehrere Passagen. Sicherlich eine schöne Erinnerung, doch für den Leser schwer nachvollziehbar. Sozialkritisch und mit eindringlichen Worten weist er dagegen auf den Einfluss der chinesischen Republik hin. Unglaublich mit was für einer brachialen Gewalt hier die Natur zerstört wird. 

Für mich ist dieses Buch auch eine Anregung, sich seine eigenen Rückzugsorte zu bilden. Die Anregung von Tesson, Beobachtungen in den Alltag einzubauen, finde ich interessant. Überall gibt es Dinge zu entdecken, wenn man die nötige Geduld dazu aufbringt.

 "Ich hatte gelernt, dass die Geduld eine höchste Tugend war, die eleganteste und meistvergessene. Sie half dabei, die Welt zu lieben, statt sie verändern zu wollen. Sie lud dazu ein, sich vor die Bühne zu setzen, die Vorstellung zu genießen - und sei es nur ein zitterndes Blatt."

Vielleicht braucht es ein wenig Geduld, dieses Buch schätzen zu lernen. Aber mit jeder Zeile wurde ich mehr in dieses wunderschöne Tibet hineingezogen und habe die Stille genossen.