Mittwoch, 28. Dezember 2022

Jemand von Elias Haller


Einmal im Jahr versteigert der "Fotograf " ein Bild im Darknet, denn nur einmal im Jahr tötet er. Doch in diesem Jahr wird er Zeuge einer Kindesentführung und sein nächstes Mordopfer rückt in den Hintergrund. Er muss die kleine Maria finden; koste es, was es wolle.  


Elias Haller ist ein Thriller gelungen, der einen klar erkennbaren Täter in ein anderes Licht rückt. Ein unglaublich kalt und kontrolliert agierender Serienkiller wird zum Ermittler. Das Böse bekommt plötzlich Grauschattierungen, die Gut und Böse verwischen. Kurze, knackige Kapitel, häufige Perspektivensprünge bilden das temporeiche Gerüst der Handlung. 

Schnell wird klar, hier wird getötet. Gezielt, präzise und mit dem Ziel, ein perfektes Foto zu erhalten. Neun Jahre lang tötet der "Fotograf" bereits und das BKA ist ihm bisher nicht auf die Spur gekommen. Anhand der Kapitel wird schon deutlich, mit wem die Lesenden es zu tun bekommen: Der Jäger, der Fotograf, der Kurier, das Luder und der Bulle. 

Unterschiedliche Handlungsstränge, die augenscheinlich keine Verbindung haben, nähern sich nach und nach an. Durch geschickt eingeflochtene Rückblicke wird immer deutlicher, warum der Fotograf tötet und wie er seine Opfer findet. 
Dagegen bleibt eine alte DDR-Seilschaft lange nebulös. Es sind Regime-Handlanger, die immer noch im Dunkeln agieren und halbseidene Geschäfte mit der Unterwelt betreiben. Eine siebzehnjährige Kleinkriminelle kundschaftet einen von ihnen aus, um an schnelles Bargeld zu kommen. Ihr drogensüchtiger Bruder kann aber nicht warten und begeht einen stümperhaften Einbruch. Von da an nimmt auch hier der Spannungsbogen seine Fahrt auf. 

Parallel dazu gerät der Bulle Lothar Kellmann immer mehr in Bedrängnis. Die siebenjährige Maria ist aus ihrem Elternhaus verschwunden und die Zeit arbeitet gegen sie. Es gibt keine Anhaltspunkte, außer dass die Kleine nicht in den besten Verhältnissen aufgewachsen ist. 

An dieser Stelle stellen sich beim Lesen die Nackenhaare auf und die Abgründe menschlichen Abschaums werden deutlich. Bis hierher war der Fotograf das Monster, jetzt wird klar, das Menschen Dinge tun, die unvorstellbar grauenhaft sein können.

 "Niemand ist derselbe Mensch der er vorher war sobald er die Welt der Pädophilen betritt."

Natürlich hege ich keine Sympathie für einen Killer. Aber spätestens als klar wird, dass er tatsächlich eine Spur verfolgt, die das Leben des kleinen Mädchens retten könnte, wird aus dem Monster wieder ein Mensch. 

Dieser Thriller geht an die Nerven, beschwört Bilder herauf, die wirklich schlimm sind und ist auch nach einigen Stunden noch sehr präsent. Man sollte sich gut überlegen, wann man diese Zeilen liest. 

Mit hat diese ungewöhnliche Mischung aus Monster und Mensch sehr gefallen. Ein kleiner Punktabzug für zu viele Zwergkaninchen, die der Handlung nichts gebracht haben. 


Von mir gibt es 4,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 06.12.2022
Verlag:  Edition M
ISBN: 9782496710915
Flexibler Umschlag
Seiten: 396





Donnerstag, 8. Dezember 2022

Fischers Frau von Karin Kalisa


Ein Teppich landet auf dem Tisch von Faserarchäologin Mia Sund. Eigentlich nicht alt genug, um ihr Interesse zu wecken. Doch die einzigartigen Farben und Muster ziehen sie in ihren Bann und schon bald befindet sie sich auf einer Spurensuche, die sie bis nach Zagreb und in die Vergangenheit führt.  


Karin Kalisa hat sich von der Geschichte der pommerschen Fischer im Jahr 1929 für ihren Roman inspirieren lassen. Ähnlich wie die damaligen Fischer Fäden zu Teppichen geknüpft haben, webt die Autorin ihre zarten und wunderschön poetischen Worte in einen Roman. Die Protagonistin Mia Sund entfaltet ihren Charakter ebenso langsam, wie sie selbst die Schönheit des Teppichs erst nach und nach erfasst. 

Durch einen zufälligen Wechsel der Blickperspektive erkennt die Archäologin das besondere Wunder des Fischerteppichs. Unzählige Muster und Farbspiele durchziehen das Bild.

"In einem sehr langsamen Prozess, wie durch Augen gesehen, die eine massive Adaptionsschwäche haben, bildeten sich weitere Konturen heraus, versanken, tauchten wieder auf: Fische in winzigen Dreier-, Vierer- und Fünferschwärmen, Seesterne, aber auch vogelartige Wesen, seltsame Blumen- alles auf berückende Weise winzig. ... Eine Miniaturunterwasserwelt - viele Faden tief."

Obwohl die zurückgezogen lebende Mia bisher jede Dienstreise abgelehnt hat, macht sie sich auf die Suche nach der Teppichknüpferin Nina, die dieses Fadenwunder geschaffen hat. Ihre Spur führt sie nach Freest an der Ostsee bis nach Zagreb zu einem besonderen Mann in einer Teppichwerkstatt. 

Durch wechselnde Zeitebenen und darin handelnde Protagonisten hat man das Gefühl, dass sich die Geschichten immer mehr zu einer neuen eigenen märchenhaften Geschichte verbinden. Vergangenheit und Gegenwart werden unwichtig. Das Leben und die Kraft, es zu genießen, rücken in den Vordergrund. Die Archäologin wechselt vom Berichtstil in einen Erzählstil und nimmt den gefundenen Faden auf und webt etwas Eigenes, Kraftvolles hinein. 

Dieser Roman entschleunigt durch den wunderbaren Schreibstil und öffnet die Augen für kleine Details. Er lässt die Lesenden nicht nur in die geheime Welt der Teppichknüpfkunst eintauchen, er macht auch neugierig auf die wahren Begebenheiten, die die Fischer 1929 zu Teppichknüpfern werden ließen. 


Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 01.06.2022
Verlag:  Droemer
ISBN: 9783426282090
Fester Umschlag
Seiten: 256





Donnerstag, 1. Dezember 2022

Das Apfelblütenfest von Carsten Sebastian Henn


Ein alter Apfelbaum und eine vermeintlich offene Stelle führen die junge Lilou zum Apfelhof von Jules.  Der zurückhaltende Mann und die lebenslustige Heilpraktikerin nähern sich langsam an und entwickeln erste Gefühle füreinander. Ihr Liebesglück wird aber sehr schnell durch dramatische Ereignisse auf die Probe gestellt.


Carsten Sebastian Henn entführt seine Leserinnen und Leser in die südliche Normandie. Man nimmt förmlich den Duft der blühenden Apfelbäume wahr und hört die Lebenslust der feiernden Apfelhofmitarbeiterinnen beim jährlichen Fest. Das französische Flair wurde wunderbar eingefangen. Die Leidenschaft für leckeres Essen und einen guten Tropfen wird spürbar umgesetzt. Man bekommt sofort Lust, eines der Gerichte von Lilou und dazu einen passenden Cidre vom Apfelhof zu kosten.

Die Charaktere werden liebevoll herausgearbeitet und durch kleine Details kann man sich ein sehr konkretes Bild von ihnen machen. Jules, der Apfelhofbesitzer, fühlt sich dem Hof verpflichtet, um dem Erbe seines Vaters gerecht zu werden. Aber erst die lebensfrohe Lilou zeigt ihm, das man auch das Herz öffnen muss, um einen wirklich guten Cidre zu produzieren. Als Heilpraktikerin ist sie der Natur nahe und nähert sich den Menschen offen und warmherzig. Auch die Nebenrollen wirken echt und lebendig und bei Jules altem Freund und Wegbegleiter hätte man sich gern selbst in dessen geheimes Zimmer begeben.

Durch Richard Barenbergs wundervolle Stimme wirkt die Handlung noch ein wenig wärmer und intensiver. Besonders die dramatischen Wendungen setzt er gekonnt in Szene. 

Die zarte Romanze zwischen Lilou und Jules bildet den Rahmen zu weitaus dramatischeren Ereignissen. Die beiden jungen Menschen geraten geradezu in einen Strudel von Ereignissen, denen sie kaum gewachsen sind. Dabei wird aber immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, seinen Gefühlen zu vertrauen, nicht aufzugeben und auch Wut und Trauer zuzulassen. 

In sehr kurzer Zeit treten überraschend viele und heftige Probleme auf, die sowohl Lilou wie auch Jules betreffen. Diese starke Konzentration von zufälligen Ereignissen war für mich nicht sehr glaubhaft. Eine dieser Katastrophen wäre schon ausreichend gewesen, um einen Roman zu füllen. Mehrere davon wirken eher überfordernd. 

Das Buch mit dem tollen Flair und der kleinen Liebesgeschichte hätte mir mehr gefallen, wenn es ruhiger und eindringlicher ein schwieriges Thema beleuchtet hätte. So fühlte ich mich gehetzt und konnte den überschlagenden Ereignissen kaum folgen. 

Ein Liebesroman Happy End darf man hier auf keinen Fall erwarten. Ein zarter Schimmer ist am Ende aber zu sehen. 

Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Hörbuchinformationen
Erschienen: 13.10.2022
Verlag:  Hörbuch Hamburg
ISBN: 978-3-86952-573-0
CD
Laufzeit: 617 Minuten





Mittwoch, 30. November 2022

Italien! Das Goldene von GU


Mehr als ein Kochbuch - Ein Blick hinter die Rezeptkulissen  

Noch ein Kochbuch. Italien. Kennt man doch schon. Nein  - halt. Dieses hier glänzt nicht nur durch den Umschlag, sondern auch durch interessante Hintergrundinformationen. Bei ca. 200 Rezepten wird jeder fündig und überraschend: Pizza läuft unter der Überschrift "Pane" und füllt nicht seitenweise dieses Buch.

Mir haben es die Antipasti Rezepte und die vielen Tipps und Tricks drumherum gefallen. Endlich konnte ich selbst einmal marinierte Möhren zubereiten, die denen aus dem Restaurant fast Konkurrenz machen konnten.
Fehlen Zutaten oder mag man lieber eine andere Gemüsesorte? Bei vielen Tausch-Tipps darf man das Rezept auch gern verändern. 

Beim Olivenrezept gibt es gleich noch den Hinweis, wie sich das Gericht länger hält:

"Die marinierten Oliven halten sich bei kühler und dunkler Lagerung ca. 1 Woche."

Weiter gibt es leckere Getränke-Tipps, Hinweise auf die verschiedensten Kaffeezubereitungen und natürlich Wissenswertes über Land und Leute.

Dank toller Bilder bekommt man sofort Lust alles auszuprobieren. Den gefüllten Pfannkuchen mit Ricotta kann ich nur empfehlen und die Kürbisravioli stehen schon als Lieblingsessen auf unserer Familienliste.

Wer gerne kocht, sich inspirieren lassen möchte und Italien liebt, liest in diesem Goldbuch genau richtig.


Von mir gibt es 5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 04.10.2022
Verlag:  GU Verlag
ISBN: 978-3-8338-8633-1
Fester Umschlag
Seiten: 352





Sonntag, 20. November 2022

Vilma zählt die Liebe rückwärts von Gudrun Skretting


Vilma Veierød wirkt wie aus der Zeit gefallen. Obwohl sie erst 35 Jahre alt ist, wirkt sie eigenartig mit ihrem Tick, möglichst lebenszeitverkürzende Dinge zu meiden. Ihren Vater Vilhelm Mozart Sandvik hat sie nie kennenlernt und ist um so überraschter, plötzlich mit seinem Tod und ihrer eigenen Geschichte konfrontiert zu werden. 


Gudrun Skretting hat mit diesem Liebesroman ihr erstes Werk für Erwachsene geschrieben. Vielleicht wirkt die Handlung deshalb so leicht, komisch und märchenhaft, weil der Autorin das Kindsein so nah liegt. Kinderbuch-Autoren müssen wesentlich anspruchsvollere Lesende zufriedenstellen. 
 
Die Heldin der Geschichte Vilma ist mir sofort ans Herz gewachsen. Die stille Musiklehrerin hat einen besonders ungewöhnlichen Charme. Ihre schüchterne, unbeholfene, teils skurrile Art, Dinge in Angriff zu nehmen, lassen beim Hören oft ein Schmunzeln entstehen. Sicherlich tragen auch die beiden Sprecher Felicity Grist und Wolfgang Gerber ihren Teil dazu bei. Ihre wundervollen Stimmen und ihr gemeinsames Agieren sind das Sahnehäubchen des Hörbuchs. 

Der Einblick in Vilmas Alltag ist anfänglich eher traurig als unterhaltsam. Vilma lebt allein im Haus ihrer verstorbenen Großtante Ruth in Oslo. Ihre Mutter verstarb schon früh und Vilma wuchs, ohne ihren Vater zu kennen, bei der Großtante auf. Schon fast panisch wertet sie all ihre Aktivitäten in Micromorts um. Diese Maßeinheit war mir bisher gar nicht bekannt. Wikipedia weiß Rat:

 "Ein Mikromort ist eine Maßeinheit für das Risiko und bezeichnet eine Wahrscheinlichkeit von 0,000001 (eins zu einer Million) zu sterben. Die Risikobehaftetheit von Tätigkeiten oder Umständen kann in Mikromort angegeben werden."

Obwohl sie die Musik so liebt, macht ihre Tätigkeit als Musiklehrerin sie nicht wirklich glücklich. Als eines Tages ein Bündel Briefe von ihrem verstorbenen Vater zu ihr findet und der Klavierschüler Andre ausnahmsweise an ihrem Klavier übt, ändert sich für Vilma schlagartig das Leben. 

Plötzlich ist das Leben nicht mehr grau, sondern bunt und lebendig. Jeder Tag hält eine neue Überraschung für Vilma bereit. Die Briefe ihres verstorbenen Vaters liest sie wie einen Adventskalender. Jeden Tag ein neuer Brief - der wundervoll vom Sprecher intoniert wird - und eine weitere Erkenntnis. Nach und nach erfährt Vilma mehr über ihre Vergangenheit, wie sich ihre Eltern kennengelernt haben und warum es kein Familienleben geben konnte.

Und langsam ganz langsam schleicht sich die Liebe ins Vilmas Leben. Es dauert eine Weile, bis sie ihre Gefühle richtig deuten kann, dann gibt es aber kein Halten mehr für die junge Frau. Sie genießt das Leben und entdeckt die Kraft der Musik und die Intensität der Liebe. 

Herrlich schräge, aber sympathische Charaktere untermalen die Geschichte. Robert der Pathologe, leidet unter Koprolalie und in den erdenklich unpassendsten Situationen rutscht ihm ein heftiges Schimpfwort heraus. Dank Vilma, die diese mit ideenreichen Wortfindungen lautstark übertönt, wird der ehemals ruhige Alltag Vilmas ordentlich durcheinandergewirbelt.

Pfarrer Ivar Kerkebü berührt Vilma tief im Herzen. Doch was findet sie an diesem Mann mit den warmen Händen. Lange rätselt man zusammen mit der Protagonistin, was denn ihr Herz nun wirklich will. 

Mir hat dieses gefühlvolle Hörbuch mit wunderschönen, traurigen, schrägen, witzigen und nachdenklichen Momenten sehr gefallen.


Von mir gibt es 5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 17.11.2022
Verlag:  USM Audio
ISBN: 9783803292940
Hörbuch
Spieldauer: 11 Stunden, 53 Minuten





Montag, 14. November 2022

Die Silberkammer in der Chancery Lane von Ben Aaronovitch


Hinter den Tresortüren der Silberkammer in der Chancery Lane hat es einen Mord gegeben. Doch dem Mord haftet etwas Ungewöhnliches an. Wie der Tatsache, dass an der Stelle, wo bei dem Opfer das Herz sein sollte, nur
ein Loch klafft. Nach einem weiteren Toten führt die Ermittlung in den Norden des Landes, wo die Vergangenheit in mehr als nur einer Weise durch die Straßen geistert. Neben magischen Artefakten und einem rituellen Gebetskreis religiös interessierter der zu einer Begegnung der dritten Art mit dem göttlichen führt, beschäftigt den Londoner Polizisten mit der Begabung zum Magischen auch ein persönliches Ereignis, das seine Karriere in neue Bahnen lenken könnte.


Ben Aaronovitch stellt im neusten Roman seiner Fortsetzungsreihe rund um den außergewöhnlich begabten Londoner Polizisten Peter Grant wieder einmal sein Können unter Beweis, indem er nicht nur eine Geschichte erzählt, die sich quer durch London mit seinen ganzen kulturellen und architektonischen Eigenheiten und weit darüber hinaus in den Norden des Landes zieht, sondern auch historisch in eine Welt voller Magie eintaucht.

Peter Grant und sein Vorgesetzter und Mentor Thomas Nightingale werden immer dann zu einem Fall herangezogen, wenn es um „abstrusen Scheiß“ geht. Als genau solchen könnte man wohl die Ereignisse bezeichnen, die sich rund um eine Gruppe religiös interessierter abspielen, die zufällig in den Besitz einiger magischer Artefakte geraten ist. Alte Feinde? treffen aufeinander. Und neue Bündnisse werden geschlossen.

Der Roman knüpft mit persönlichen Ereignissen im Leben von Peter Grant lückenlos an die Fortsetzungsreihe an, doch auch als Einzelwerk ist dieser lesenswert. Die Unwissenheit  der neu eingeführten Praktikantin Danny, welche eine Grundeinführung in Falcon-spezifische Analysen erhält, so der offizielle Begriff für den Umgang mit magischen Geschehen und Tatorten, kommt dem Neu-Leser zugute. Relevante Details über die Herangehensweise der magischen Abteilung der Polizei von London, sowie Rückgriffe auf vergangene Geschehnisse aus vorherigen Romanen ermöglichen einen nahtlosen Einstieg in die Handlung.

Die angebrachten historischen Details über die spanische Inquisition und die Geschichte der Juden in England verleihen der Geschichte eine Realitätsnähe, die bei Fantasy Romanen selten zu finden noch zu erwarten ist. Doch die Fülle der Informationen kann den historisch unbewanderten Leser teilweise überfordern.

Eine Empfehlung für alle Krimi, Fantasy und Detektivroman Fans und jene treue Leserschafft der Flüsse-von-London-Reihe.



Von mir gibt es 4,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 13.04.2022
Verlag:  dtv
ISBN: 978-3-423-26331-3
Flexibler Einband
Seiten: 416





Mittwoch, 9. November 2022

In fünf Jahren von Rebecca Serle



Als ehrgeizige junge New Yorker Anwältin ist Dannie es gewohnt, zielstrebig und strukturiert zu agieren. Die Frage, wo sie sich in fünf Jahren sieht, ist für sie einfach. Erfolgreich, verheiratet und wohlhabend wird ihr Leben sein. Doch dann träumt sie nach dem ersehnten Heiratsantrag einen Traum, der mehr Realitätsnähe hat, als sie es sich wünscht. Der Traummann ist nicht ihr zukünftiger Mann und die Wohnung nicht die, die sie sich vorgestellt hat. Beängstigend wird es, als Dannie diesen fremden Mann tatsächlich viereinhalb Jahre später kennenlernt. Doch er ist bereits vergeben und zwar mit einer ihr bekannten Frau.


Der Schreibstil der Autorin Rebecca Serle ist leicht und locker. Schnell fliegt man über die Seiten und begleitet die Ich-Erzählerin Dannie, die seit ihrem verwirrenden Traum immer wieder an diesen fremden Mann an ihrer Seite denken muss. Das Setting wirkt sehr amerikanisch und das Streben nach Erfolg und Geld steht deutlich im Vordergrund. Es zählt nur, wer genug Geld hat und damit andere beeindrucken kann und will. Dannie und ihr Verlobter David sind das amerikanische Dream-Team. Erfolgreich, jung, gut aussehend, ohne Ecken und Kanten.

Die Beschreibung der Handlung zeigt sich deshalb auch oft nicht auf der emotionalen, sondern auf der sachlichen Seite. Wohnungen, Dekorationen, Kleidung und teure Restaurants werden häufig und detailliert erwähnt.

Überrascht wird man dann aber doch, als sich die Handlung verändert und der Schwerpunkt anders gesetzt wird. Plötzlich werden Werte wie Freundschaft, Liebe und Unterstützung wichtig.

Dennoch konnte der Roman mich nicht ganz überzeugen. Die Charaktere wirkten zu aufgesetzt und künstlich. Die Emotionen waren schwer nachvollziehbar und besonders die Traumsequenzen, die so wichtig für Dannie waren, wirkten inszeniert.

Wer den amerikanischen Upper Class Lifestyle mag und das Leben der Schönen und Reichen verfolgt, wird in diesem Roman seine Lektüre finden.


Von mir gibt es 3,4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 14.06.2022
Verlag:  btb
ISBN: 9783442770144
Flexibler Einband
Seiten: 320





Mittwoch, 2. November 2022

Geschichten, die das Denken herausfordern von Elke Wiss

 
Philosophieren - oder einfach nur Denken. Dieses Buch gibt Anleitungen zum Nachdenken
und ist als Einstieg in die Philosophie gedacht.
Tipps und leichte Beispiele helfen sich zu orientieren.



Elke Wiss gibt mit ihrem Sachbuch den Lesenden einen Werkzeugkasten für gute Gespräche an die Hand. Besonders gelungen ist der erste Teil, der als Anleitung zum Buch und für weitere Gespräche gedacht ist. Vieles daraus kann man sofort anwenden und ist überrascht, wie unterschiedlich die kleinsten Texte gedeutet werden können.
 "Philosophieren ist also gewiss nicht nur ewtas für besonders schlaue, intelligente Menschen. Es ist nicht per se hochtrabend, schwierig oder akademisch. Philosophieren kann sehr praktisch sein. Außerdem sind Sie sogar hin und wieder ein wenig philosophisch, ohne es zu wissen"

Die Autorin erklärt selbst, dass sie anfänglich nicht genau die Zielgruppe herausarbeiten konnte oder wollte. Dies ist für mich der einzige Kritikpunkt an diesem Buch. Teilweise fühlt man sich tatsächlich mit einem Kinderbuch konfrontiert. Der Einstieg wimmelt nur so vor Märchen- und Filmfiguren, die mich etwas ratlos vor dem Text zurückließen. Dies sollte der Einstieg zur Philosophie sein?

Doch wer sich davon nicht beirren lässt, wird mit vielen Denkanstößen belohnt. Sehr kurze und leicht formulierte Geschichten mit einem thematischen Bezug laden zum Nachdenken und Diskutieren ein. Es geht um Eitelkeit, Beziehung, Streit, Stille, Wut, Sprache, Zeit, Zweifeln, Besitz, Trauer, Versagen etc. 

Nach jeder Geschichte gibt es Fragen, die das Nachdenken fördern und eigene Fragen entstehen lassen. 

Gegliedert sind die Fragen in: "Anregende Fragen, Verständnisfragen, Philosophische Fragen und Kreative Aufgaben".

Jemand, der nach einem Todesfall viele Fragen ohne die dazugehörigen Antworten findet, wird vielleicht durch die Geschichte "Tu me manques" die ein oder andere Frage selbst beantworten können oder zumindest eine Anregung für neue Gedanken finden.  

Dies ist ein Buch, welches häufiger zur Hand genommen werden sollte. Sicherlich auch interessant, manche Fragen in größerer Runde zu beantworten oder das Buch auch mal zu verleihen, um zu sehen, was andere in den Geschichten für Inhalte herauslesen. 

 Wer sich selbst gern Fragen stellt, Gedanken macht oder diskutiert, sollte dieses Buch unbedingt lesen. 

Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 02.11.2022
Verlag:  Kösel
ISBN: 783466347940
Fester Umschlag
Seiten: 192






Dienstag, 11. Oktober 2022

Das neunte Gemälde von Andreas Storm


Ein mysteriöser Anrufer meldet sich im Jahr 2016 bei dem bekannten Kunstexperten Dr. Lennard Lomberg. Bevor die wagen Andeutungen über ein verschollenes Gemälde im Gespräch genauer erklärt werden können, wird Dupret kurze Zeit später ermordet aufgefunden. Trotz vorhandenem Alibi gerät Lomberg unter Verdacht und er muss sich der Kriminalrätin Sina Röhm gegenüber verantworten. Lombergs eigene Ermittlungen führen ihn in die Vergangenheit seines berühmten Vaters, der augenscheinlich in einen Beutekunst-Fall verwickelt war.   


Andreas Storm hat mit dem "Neunten Gemälde" den Auftakt zu einer Krimireihe geschrieben, in der er das Thema Kunst, Geschichte und Krimi miteinander verbunden hat. Seine Leidenschaft für Geschichtsdaten ist förmlich in jeder Zeile zu spüren. Bis ins kleineste Detail werden Szenen ausgearbeitet und Erklärungen für geschichtliche Hintergründe geliefert. Was ich anfänglich noch als interessanten Schreibstil empfunden habe, wirkte bei jeder weiteren Seite anstrengender. Die Konzentration auf den eigentlichen Kriminalfall fiel mir schwer, das Abschweifen in sehr kleine, für mich als unwichtig empfundene Details, lies keinen Lesefluss zu. Selbst als ich einige Kapitel im Nachhinein noch einmal gelesen habe, bin ich wieder über diese Punkte gestolpert.

Die Handlung wechselt zwischen drei Zeitsträngen und beginnt mit dem Jahr 2016 in Bonn. Die Vergangenheit handelt von Lombergs Vater, der 1943 in Paris stationiert war. Ein geschickt eingefädelter Kunstraub lässt das ganze Ausmaß erkennen, wie zu dieser Zeit mit dem Gut anderer gehandelt wurde. Ein Rückblick in das Jahr 1966 deckt auf, wie lange nach dem Krieg immer noch alte Drahtzieher Einfluss auf die politische Nachkriegszeit nahmen.

Viele Personen, die auftauchten und wieder verschwanden, deren Zusammenhang mit dem Fall nicht ersichtlich waren und trotzdem eine starke Gewichtung erhielten, sind mir nicht im Gedächtnis geblieben. So genau die Beschreibung der Kunst- und Geschichtsdaten war, so ungenau blieben die Charaktere. Mir fehlte die Lebendigkeit und die Leidenschaft, denn erlebt hatten die Protagonisten genug. Dramatische, unverarbeitbare Kriegserlebnisse, die dennoch wie eine Abhandlung von sachlichen Berichten zu lesen waren.

Am Ende flammt der Kriminalfall noch einmal auf und offenliegende Fäden werden wieder aufgenommen. Doch Spannung konnte für mich an dieser Stelle nicht mehr entstehen.

Ich hätte mir einen spürbaren Spannungsbogen gewünscht. Die interessanten Details am Rande hätten besser als Fußnote oder Anhang ihren Platz gefunden, denn die Recherchearbeit für diesen Roman ist zu spüren.

Ein Kriminalfall ist es für mich aber nicht geworden. Kunst und Geschichte dominieren und lassen der Figur Lomberg zu wenig Spielraum. Die Fortsetzung der Krimireihe werde ich nicht mehr verfolgen.


Von mir gibt es 3 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 18.08.2022
Verlag:  Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 9783462003888
Flexibler Umschlag
Seiten: 416





Montag, 15. August 2022

Dämmerstunde von Hwang Sok-yong

Dämmerstunde
Seiner Vergangenheit hat der erfolgreiche koreanische Architekt Bak Minu schon lange den Rücken zugewandt, bis eine Nachricht einer Jugendliebe ihn schmerzhaft an sein Leben im Armenviertel Seouls erinnert.  


Hwang Sok-yongs distanzierter und pragmatischer Schreibstil erfordert Aufmerksamkeit beim Lesen. Der ruhige und fast dokumentarische Stil lässt ein besonderes Bild entstehen. Die Protagonisten treten in den Hintergrund und lassen dem gesellschaftlichen Leben in Seoul viel Raum. Der Hauptprotagonist Bak Minu hat es als einer der wenigen Slumbewohner geschafft, sich seinem vorgezeichneten Weg zu entziehen. Rückblickend wird sein Werdegang aus seiner Sicht in einem Erzählstrang dargestellt. 
 
Parallel dazu wechselt man in die Gegenwart zur jungen Uhi, die versucht, sich als junge Frau allein als Regisseurin in der Theaterwelt zu behaupten. Ihr Dasein hat wenig Lebenswertes und es schmerzt, die nüchterne Sprache über fehlende Mahlzeiten und katastrophale Lebensbedingungen zu lesen. Sehr interessant sind die geschichtlichen Parallelen zu wahren Geschehnissen in Korea, von denen ich bisher wenig wusste.

Obwohl Bak Minu seine ganze Kindheit und Jugend in einem Armenviertel verbracht hat, zögert er keinen Moment, als er als angestellter Architekt einer Baufirma für die Umgestaltung dieser Gegend engagiert wird.

"Meine berufliche Tätigkeit bestand eigentlich im Plattwalzen, Wegräumen und Entsorgen von anderer Leute Erinnerungen."

Erst als ihm ein flüchtig zugesteckter Zettel einer alten Liebe im Alter zugesteckt wird, erinnert er sich an seine Wurzeln. Diese eindringliche Erinnerung ist sehr bewegend beschrieben. Die "Neues Dorf Bewegung" in den 70er-Jahren hat in Korea viele Orte sprichwörtlich planiert und eingeebnet. Den Bewohnern wurde gerade einmal Zeit gegeben, das Nötigste aus den Häusern mitzunehmen, bevor die Bulldozer alles zerstörten. Es gibt keinen Ort, an den man zurückkehren kann, keine Gebäude, Bäume, die einem Erinnerung an Vergangenes schenken.

 "Ich hatte keine Gedanken an jene verschwendet, die sich nicht sagen konnten, dass sie jetzt ein lebenswertes Leben führten, dass sie glücklicherweise nicht auf der Strecke geblieben sind."

Besonders die kleinen Ausflüge in den Alltag der Bewohner eines solchen Viertels gehen nah. Im Nichts wird versucht zu überleben: Fischreste werden zu besonderen Delikatessen verarbeitet, Schuhputzer-Gangs kämpfen um die besten Plätze und eine kleine Romanze zwischen zwei jungen Menschen erblüht und verwelkt fast gleichzeitig. Diese trostlose Hoffnungslosigkeit, die sich beim Lesen einstellt, ist schwer zu ertragen, vor allem wenn man im westlichen Überfluss leben darf.
 
Die gegensätzlichen Erzählstränge von Vergangenheit und Gegenwart wollten anfangs nicht zueinander passen und mussten konzentriert verfolgt werden. Die ungewohnten koreanischen Namen und Bezeichnungen taten ihr Übriges, um im Gelesenen keinen Zusammenhang zu finden. Am Ende wurde aber klar, warum die Handlungen so lange unverknüft parallel erzählt wurden. 

Dieser Roman hat mir Korea und seine Vergangenheit sehr deutlich nahe gebracht und die Sicht auf menschliche Schicksale außerhalb der europäischen Komfortzone geöffnet. Lediglich die anfänglich deutsch/österreichische Übersetzung einiger Begriffe (z. B. Treppenstiege, Pappenstiel) hat ein wenig verwirrt. 

Für Lesende, die gerne über den Tellerrand herausschauen, eine Leseempfehlung.
 
 
Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 30.06.2022
Verlag:  Europa Verlag
ISBN: 978-3-95890-305-0
Fester Umschlag
Seiten: 200





Mittwoch, 6. Juli 2022

Ein unendlich kurzer Sommer von Kristina Pfister


Einem spontanen Impuls folgend packt Lale ihre Sachen und fährt ins Nichts. Sie will einfach nur weg und landet auf einem Campingplatz im Nirgendwo. Beim Rentner Gustav, dem Besitzer des Platzes, fühlt Lale sich wohl, kann endlich loslassen und den Sommer genießen. Doch dann erscheint Christophe und bringt mit seinem französischen Charme ihr Gleichgewicht heftig ins Wanken. Selbst  Gustav bleibt von der Veränderung nicht verschont und muss sich seiner Vergangenheit, die er so gut verborgen hält, stellen. 


Kristina Pfister hat einen sehr leichten, beschwingten Schreibstil, der gut zu diesem Sommerroman passt. Ihre Protagonisten zeigen erst auf den zweiten Blick ihr wahres Ich und wirken bis auf kleine Details sehr authentisch. Lales anfängliche Toughheit bröckelt zusehends und ihre Trauer, die sie anfänglich verbirgt, rührt selbst den grantigen Gustav. Doch auch seine harte Schale verbirgt einen sympathischen alten Mann, der, nachdem er mit der Vergangenheit konfrontiert wird, aufzublühen scheint.

Innerhalb von wenigen Sommertagen verwandelt sich das Leben so einiger Personen. Dabei ist der in die Jahre gekommene Campingplatz ein ungewöhnlicher und sehr glaubhaft beschriebener Ort. Blätternde Farbe, zugewucherte Wege und müffelnde Toiletten lassen eigentlich keinen Spielraum für Romantik und doch gibt es in diesem Ambiente kleine wunderschöne Momente.

Selbst Nebendarsteller wachsen einem ans Herz. Der junge siebzehnjährige Flo, der sich von seinen Ängsten befreien kann und auch der Althippie James, der für jeden einen weisen Spruch hat, sind gut herausgearbeitet worden. 

Allein die Geschichte um eine vermeintliche archäologische Entdeckung und der Hype um ein Loch vor dem Campingplatz hätten für mich nicht sein müssen und haben die Handlung überfrachtet. Eine stillere Variante ohne künstlich inszenierten Trubel hätte mir besser gefallen.

Die Wandlung der Protagonisten hat mir gefallen. Erst in der Gruppe haben sie gelernt, sich zu öffnen, Gefühle und Trauer zuzulassen und für Neues offen zu sein. 

Ein schöner Roman, um sich in der Hängematte eine kurze Auszeit zu nehmen. 

Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 25.05.2022
Verlag:  FISCHER Taschenbuch
ISBN: 9783596706204
Flexibler Einband
Seiten: 368



Sonntag, 5. Juni 2022

Die neue Wildnis von Diane Cook


Wohin, wenn die Stadt das eigene Kind krank macht. In der nahen Zukunft scheint Amerika nicht mehr lebenswert zu sein. Eine Forschungsstudie scheint für zwanzig ausgewählte Personen die Rettung zu sein. Geschützt und von allem abgeschirmt, soll die Gruppe allein auf sich gestellt in der Wildnis eines Nationalparks leben. 

Diane Cook zeichnet ein düsteres Zukunftsbild, das sehr glaubhaft und durch und durch spürbar beschrieben wird. Smog, Überbevölkerung und ungesunde Lebensmittel bedrohen die Menschheit. Es scheint keinen Ausweg mehr zu geben, die letzten Ressourcen wurden ausgeschöpft und die wenigen Quadratmeter Natur einzig in einem Nationalpark gerettet. 

Kinder sind in dieser Welt nicht mehr willkommen und wenn sie geboren werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie überleben, gering. Die fünfjährige Agnes kämpft täglich ums Überleben, bis ihre Eltern sich dazu entschließen, an einer einzigarten Studie teilzunehmen. Sie verlassen die Stadt und leben zukünftig ohne technische Unterstützung in der Wildnis. Zusammen mit einer kleinen Gruppe Freiwilliger müssen sie lernen, in der Natur als Nomaden zu überleben. Außer einem Handbuch mit Regeln und der Überwachung durch Ranger sind sie auf sich gestellt. 

Beim Lesen ist mir die ein oder andere Gänsehaut über den Körper gelaufen. Könnte ich das? Alles aufgeben und Tiere töten, ohne Wärme im Winter überleben, Krankheiten ohne Medikamente überstehen. Wer sich nicht anpasst oder einen Fehler begeht, hat keine Chance zu überleben. Der Schreibstil der Autorin ist fesselnd trotz oder vor allem wegen der Neutralität der Worte. 
Zeit zum Trauern dürfen sich die Protagonisten nicht nehmen. Persönliche Belange stehen hinten an, denn als Erstes muss das Überleben der Gruppe gesichert werden.

Besonders interessant ist es, Agnes aufwachsen zu sehen. Vom kranken Stadtkind zur starken Wildnis-Frau, die ihre eigenen Werte im Leben setzt. Die Erinnerung an die Zivilisation verblasst immer mehr, dafür kann sie wie kein anderes Gruppenmitglied das Verhalten der Tiere deuten. Sie beobachtet die Natur, sieht wann Gefahr droht und kann Wege erkennen, die sonst niemand sieht. Diese Sicht wünsche ich mir, damit uns dieses Zukunftsszenario nicht ereilt. 

Der erste Teil des Romans kann durch die detaillierten Naturbeschreibungen und den Kampf der Menschen brillieren. Im zweiten Teil ist besonders die Protagonistin Bea schwierig einzuordnen. Ihr Verhalten konnte ich nicht nachvollziehen und teilweise wurde für mich auch einiges nicht sauber aufgelöst. Die Befürchtung, dass über die Jahre die Außenwelt immer mehr unter der Umweltverschmutzung zu leiden hat, bewahrheitet sich. Die daraus resultierenden Folgen für den Nationalpark scheinen unabwendbar. 
So langsam und erlebbar der erste Handlungsstrang beschrieben wurde, so schnell wird das Ende in kurzen Szenen offen gelassen. Fassungslos ob der Uneinsichtigkeit der Regierung wird eine Entscheidung getroffen, die nicht nur die Naturstudie ad adsurdum führen. 

Mich hat dieser Roman sehr nachdenklich zurückgelassen. Die ferne Zukunft steht schon direkt vor der Tür und ich möchte mich nicht entscheiden müssen, ob die einzige Rettung in einem zum Scheitern verurteilten Naturversuch liegt. 


Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 09.05.2022
Verlag:  Heyne
ISBN: 9783453321588
Flexibler Einband
Seiten: 544



Donnerstag, 2. Juni 2022

Morgen kann kommen von Ildikó von Kürthy und Peter Pichler


"Ich brauche eine Auszeit". Mit diesem Satz wird Ruth von ihrem Mann verlassen. Damit hätte sie noch klarkommen können, nicht aber mit dem Foto, das sie kurze Zeit später zufällig an einem Filmautomaten findet. Unterstützung erhofft sie sich von ihrer Schwester, die aber eigentlich seit Jahren nicht mehr mit ihr spricht. Sie fährt trotzdem spontan nach Hamburg und ahnt nicht, welche Steine dadurch ins Rollen geraten.  


Ildikó von Kürthy steht für Frauenthemen und Power, gute Unterhaltung und leicht umschriebene, aber wichtige Themen, die Frauen in allen Lebensabschnitten interessieren. Auch in diesem Roman ist es nicht anders. Was, wenn eine Ehe nicht mehr rund läuft und man es gar nicht mitbekommt. Wenn einem das Leben davongelaufen ist und man zu spät merkt, was man alles verpasst hat. Für Ruth scheint ihr Geburtstag und der gleichzeitige Hochzeitstag ein Wendepunkt im Leben zu werden. 

Die Angst, sich gar nicht mehr selbst zu kennen, sondern nur noch zu funktionieren, ist deutlich spürbar. Ruths Verzweiflung ist glaubhaft und ob man es nun selbst oder bei einer guten Freundin erlebt hat, diese Situation wird sicherlich einigen Lesenden bekannt vorkommen. Der Einstieg ins Buch dadurch gelungen und nachvollziehbar. Dann überholt sich die Handlung aber fast selbst. 

Es passiert viel - sehr viel - in diesem Roman. Die Akteure steuern von einer Notsituation in die nächste. Erleben unglaubliche Dinge in sehr kurzer Zeit und genau deswegen habe ich mich beim Lesen nicht mehr abgeholt gefühlt. Diese Protagonisten waren alle überzuckert und agierten fern der Realität. Teilweise hat mich die Handlung an eine Comedy erinnert. 

Der ehepausierende Ehemann ist im gleichen Wellnesstempel abgestiegen wie der Bekannte von Ruths Schwester. Das Drama ist vorprogrammiert. Gegenpol ist die Hamburger Villa, in der die Harmonie zwischen den unterschiedlichsten Bewohnern kaum zu überbieten ist. Selbst Ruth, die ja eigentlich ein ungebetener Gast und langjährig ignorierte Schwester ist, wird herzlich aufgenommen. Die Verwirrung ist perfekt, als Fatma auftaucht und von ihrem Geliebten schwärmt. 

Viele Themen, die leider schon so oft in Büchern und Filmen herhalten mussten, werden hier bemüht. Der dicke komische Kauz, der abnehmen will, aber nur, wenn er weiter so viel essen kann, wie er will. Die eigenwillige, männerlose Powerfrau, die ganz tief im Innern doch geliebt werden möchte, die bevormundete Ehefrau, die sich nun endlich befreien muss, und die blauäugige Geliebte, die zu spät merkt, dass sie nur ein Spielzeug ist. 

Die Story ist kurzweilig und für eine Lektüre am Strand geht sie durch. Aber den tollen Erzählstil wie in "Mondscheintarif" findet man hier nicht. Eine Lieblingsstelle am Ende habe ich aber doch gefunden. Eine leise Abschiedsszene von einem guten Freund, der seine letzte Reise antritt. Nur konnte diese Szene den Rest des Romans nicht retten. 

Ungewöhnlich sind kleine bunte Skizzen von Peter Pichler, die die Handlung unterstreichen. Für mich in einem Roman neu und auflockernd, aber nicht unbedingt notwendig.
Wer eine leichte Urlaubslektüre sucht, wird sie hier finden.

Von mir gibt es 3 von 5 Punkten


Buchinformationen
Erschienen: 12.04.2022
Verlag:  ROWOHLT Wunderlich
ISBN: 9783805200936
Fester Umschlag
Seiten: 368







Dienstag, 31. Mai 2022

Dann rennen wir von Paula McGrath


Unterschiedliche Orte, unterschiedliche Schicksale und doch haben diese drei Frauen etwas gemeinsam: Sie sind auf der Suche nach sich selbst, etwas Halt, Anerkennung oder auch nur Ruhe. Flucht ist am Ende keine Lösung, denn diese Frauen stellen sich ihren Dämonen.   

Paula McGrath erzählt in ihrem Roman in unaufdringlich direkter Art, wie sich Frauen ihrem Schicksal stellen. Es gibt drei unterschiedliche Handlungsstränge, deren Geschichten abwechselnd in Großbritannien, Irland und Amerika in unterschiedlichen Zeitebenen eingeblendet werden. Die Sprecherin des Hörbuchs, Franziska Hartmann, unterstreicht durch ihre Stimme gekonnt die direkte Sprache der Protagonistinnen. Hier gibt es keine Schnörkel und Schleifen, die Sprache ist sehr direkt und trifft die atmosphärische Spannung und die Verletzlichkeit der Frauen. 

Besonders das Schicksal der sechzehnjährigen Jasmin wird nachempfindbar und schonungslos beschrieben. Auf der Flucht vor ihrer alkoholkranken Mutter, einem fehlenden Zuhause und keiner erkennbaren Zukunft gerät sie in ein skrupelloses dunkles Milieu. Drogen, Prostitution und Misshandlung gehören zu ihrem Alltag, bis sie ihre Leidenschaft für das Boxen entdeckt und einen Menschen findet, der an sie glaubt. 

Als Waise sieht die junge Ali einer ungewissen Zukunft entgegen. Ihre verstorbene Mutter hat ihr wenig hinterlassen und plötzlich gibt es Großeltern, die mit ihrer Rolle überfordert, aber bemüht sind. Für Ali ist der Kontrast zwischen Wohnschiff und reichem Großelternhaus zu viel. Sie flieht mit einer Biker-Gang, ohne deren Ziel zu kennen. Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich.

Am unnahbarsten war die Story um eine Gynäkologin in Dublin, die in London einen Neuanfang wagen will, sich aber von ihrer pflegebedürftigen Mutter nicht trennen will. Die Gedankengänge und Gefühlsäußerungen waren für mich schwer zu greifen, auch wenn das Thema durchaus verständlich vermittelt wurde. 

Es dauert, bis man nach und nach das Gefühl für diese Protagonistinnen entwickelt. Im Hörbuch ist es sehr schwierig, den Wechsel in einen neuen Handlungsstrang zu erkennen. Auch wenn Jahreszahlen und Namen genannt werden, bleibt die Erzählstimme gleich und man muss sich sehr konzentrieren, um die Sprünge zu erkennen. 

Kurz vor dem Ende, wenn man als Hörende darüber nachdenkt, wohin die Reise führen soll, verändert sich die Handlung und führt einzelne Fäden zueinander. 

Für mich war dieser Roman dennoch nicht ganz schlüssig und zu distanziert. Als Hörende fühlte ich mich ausgeschlossen, war Beobachterin von unfassbaren Dingen, die so emotionslos transportiert wurden, dass der Schock des Moments umso größer war. Vielleicht gebe ich der Schriftform noch eine Chance.

Von mir gibt es 3 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 13.04.2022
Verlag:  GoyaLit
ISBN: 978-3-8337-4477-8
Spielzeit: 490:10 Minuten





Sonntag, 22. Mai 2022

Affenhitze von Volker Klüpfel und Michael Kobr


Statt mit einem kühlen Weißbier der Hitze zu trotzen, muss Kommissar Kluftingers Team in Pforzen für die Sicherheit des Ministerpräsidenten während einer Feier anlässlich eines archäologischen Sensationsfundes sorgen. Doch nicht Menschenaffe "Udo", sondern sein Entdecker Professor Brunner wird tot in der dörflichen Tongrube gefunden. Nicht nur die Hitze macht Kluftinger bei diesem Fall zu schaffen.    


Das Autorenteam KlüpfelKobr hat diesen 12. Teil der Kommissar Kluftinger Serie an einen archäologischen Fund im ostallgäuischen Pforzen angelehnt. Das "Danuvius Guggenmosi" eine echte Bezeichnung für einen Menschenaffen, der vor 11,62 Millionen Jahren lebte, ist, hätte ich nicht gedacht. Selbst bei so einem humorvollen Krimihörbuch kann man also auch etwas lernen. https://udo.pforzen.de

Besonders gelungen ist die sprachliche Umsetzung. Zusammen mit Martin Umbach liest das Autorenteam in sehr unterhaltsamer, mundartlich humorigen Art. Besonders Kluftingers Flüche sind einzigartig und erfreuen nicht nur seine Facebook-Follower im Roman. 

Für mich war es tatsächlich der erste Kluftinger Fall. Vielleicht liegt es daran, dass ich diesen schrägen Charakter zuerst etwas befremdlich fand. Als Kommissar sollte man eigentlich auf der Höhe der Zeit sein; Kluftinger scheint aber eher aus der Zeit gefallen zu sein. Ob es nun um Neue Medien oder um familiäre Aktivitäten geht, er wirkt immer ein wenig tollpatschig oder einfach nur situationsüberfordert. 
Es macht ihn aber auch liebenswert, denn obwohl er mit Facebook, Smartphone oder Drohnen einen ungleichen Kampf führt, hat er am Ende doch ein feines Gespür und findet Spuren, die jeder andere übersehen hätte. 

Gekonnt werden Hinweise gestreut, die viele mögliche Täter ins Spiel bringen und diverse Klischees bedienen. Für mich waren die verdächtigten Personen aber zu sehr in Schubladenkategorien abgelegt worden. Vielleicht auch gewollt, um Lesende darauf hinzuweisen, dass man nicht vorverurteilen soll. 

Ein sehr unterhaltsamer Regionalkrimi, der vor allem durch die Mischung aus wahren Gegebenheiten und fiktiven Passagen ein besonderes Hör-Erlebnis erschafft. 

Vor dem Hören sollte man sich folgenden Artikel anschauen. Dann macht es gleich doppelt Spaß.

Merkur Artikel


Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 28.04.2022
Verlag:  Hörbuch Hamburg
ISBN: 9783844929065
Hörlänge: 16 Stunden 36 Minuten





Garmischer Mordstage von Roland Krause


Eigentlich wollte Ben Wiesegger es nach 20 Jahren Abwesenheit in Garmisch langsam angehen. Doch wer davonläuft, darf nicht mit Vergessen rechnen. Und dann ist da noch der Tote auf der Viehweide. Tierärztin Schmerlinger glaubt nicht, dass ein Stier ihn auf dem Gewissen hat. Als Bens Familie in den Fall hineingezogen wird, ermittelt das ungleiche Duo auf eigene Faust.   


Roland Krause hat mit gewohnt locker sitzender Feder einen mundartlich wordmalerisch akrobatischen Krimi mit regionalen Details geschrieben. Kurze Kapitel und  knappe markige Sätze unterstreichen die launige Handlung. 

Für jeden Leser*innen-Typ findet sich ein Charakter, mit dem man sich anfreunden kann. Ein eifersüchtiger Dorfsheriff, der wilder als der vermeintliche Mordstier auf der Weide auftritt. Dessen liebestolle Frau, die zu Hochtouren aufläuft, als ihre Jugendliebe eintrifft. Der gescheiterte, abgerissene Journalist, der trotz mangelhaftem Selbstbewusstsein bei der energischen Tierärztin einen Stein im Brett hat. Gauner, Dealer und Immobilienhaie und natürlich Freunde, die mit einem durch dick und dünn gehen. 

Mein heimlicher Favorit ist allerdings  Bens alter und vermeintlich unbeholfener Vater. Obwohl er sein Zimmer nicht verlässt und meistens die Sterne betrachtet, ist er immer zur Stelle, wenn es darum geht, Einbrecher und Wandbeschmierer in die Flucht zu jagen. Seine unaufgefordert erteilten Weisheiten sind prägnant und dulden keinen Widerspruch, denn schließlich behält er am Ende ja doch immer recht.

Die Handlung nimmt langsam Fahrt auf, man kann sich orientieren, einen Eindruck von den Örtlichkeiten gewinnen und die Eigenarten der einzelnen Protagonisten auf sich wirken lassen. Der ausgeprägt umschreibende Sprachstil, der möglichst viel Humor vermitteln sollte, gefiel mir anfangs sehr gut, strengte mich am Ende aber mehr an. Die eingestreuten Informationen über Bräuche und regionale Gepflogenheiten haben mir besser gefallen. Besonders die Umsetzung einer besonderen Verkleidung in einer Schlüsselszene passt sehr gut in einen Regionalkrimi.

Der Spannungsbogen wird am Ende strapaziert, als auf allen Ebenen dramatische Ereignisse einsetzen. Ein finaler Moment hätte völlig ausgereicht, um Spannung zu erzeugen. Für mich war es ein sehr kurzweiliger Krimi, der sich gut im Urlaub auf einer Bergwiese lesen lässt.


Von mir gibt es 3 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 14.04.2022
Verlag:  emons:Verlag
ISBN: 9783740814502
Flexibler Einband
Seiten: 320





Freitag, 13. Mai 2022

18/4 - Der Hauptmann und der Mörder von Zhou Haohui


Nach 18 Jahren nimmt ein brutaler Serienkiller in der chinesischen Stadt Chengdu seinen Rachefeldzug gegen ungeahndete Verbrecher wieder auf. Die Sondereinsatzgruppe 18/4 muss fassungslos verfolgen, wie ein Mord nach dem anderen geschieht und sie dem Täter keinen Schritt näher kommen. Selbst Hauptmann Pei Tao, der schon die Anfänge des selbst ernannten Eumenides erlebt hat, tappt im Dunklen.   


Zhou Haohui hat mit dem Auftakt der Trilogie kein neues Thema aufgegriffen. Gewitzte Täter, die die Polizei an der Nase herumführen, hat es schon häufiger gegeben. Doch der chinesische Touch ist neu. Die Charaktere für westliche Lesende ungewohnt und deshalb interessant. Glücklicherweise gibt es ein Personenverzeichnis der Einsatzgruppe. Denn Namen wie Han Hao, Yin Jian oder Xiong Yuan bleiben erst einmal nicht im Gedächtnis. Der Autor belässt es auch bei den Namen und beschreibt seine Protagonisten nur oberflächlich. 

Der Schreibstil ist flüssig und man findet sich schnell in die Handlung. Der anfängliche leichte Spannungsbogen steigert sich schnell in ein rasantes Hase- und Igel-Rennen. Der Killer legt vor, indem er den Opfern durch eine Todesanzeige mitteilt, warum und wann sie sterben müssen und obwohl die Polizei alle erdenklichen Schutzmaßnahmen trifft, gelingt Eumenides der Mord. Nichts scheint ihn aufhalten zu können. Erste Vermutungen, es könnte jemand aus den eigenen Reihen sein, streut Argwohn und Misstrauen im Ermittlungsteam. 

Vor allem Hauptmann Pei Tao, der nur als beteiligte Person im Fall vor 18 Jahren hinzugezogen wurde, wird kritisch betrachtet. Er kann sich am besten in den Täter hineinversetzen. Zu gut? Der Autor spielt geschickt mit Vorverurteilung und menschlichem Verhalten. 

Immer mehr verstricken sich einzelne Ermittelnde in eigene Vergehen. Der Kreislauf von Abhängigkeiten, Korruption, Verbrechen und eingeforderter Schuldversprechen zeigt, wie schnell aus einem vermeintlich harmlosen Fehlverhalten ein Verbrechen werden kann. 

Die Schnelligkeit der aufeinanderfolgenden Fälle hat mich kaum zu Atem kommen lassen. Kaum hat man sich von einem schrecklichen Mord erholt, taucht die nächste Todesanzeige auf, die auch sichtbar für den Lesenden auf der Buchseite prangt. An manchen Stellen sind mir die Beschreibungen der Opfer und deren Misshandlungen zu sehr ins Detail gegangen. Die Handlung hat diese Bilder nicht benötigt, um zu fesseln.

Bis auf einige Sätze, die etwas verschroben zu lesen sind und einem schwerwiegenden Namensfehler, der Polizist und Polizistenmörder vertauscht, ist die Übersetzung gelungen. 
Das Ende hat mich überrascht und wurde gut gelöst; ein Versprechen auf eine spannende Fortsetzung.  Ich wäre mit einem finalen Ende an dieser Stelle aber auch einverstanden. 


Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 10.01.2022
Verlag:  Heyne
ISBN: 978-3-453-43983-2
Flexibler Einband
Seiten: 400





Mittwoch, 13. April 2022

Was es braucht in der Nacht von Laurent Petitmangin


Ein alleinerziehender Vater muss hilflos mit ansehen, wie sein heranwachsender ältester Sohn in rechtsextreme Kreise gerät und ihm entgleitet. Eingreifen oder schweigen, was soll er tun. Er hofft, den Jungen, den er großgezogen hat, wiederzufinden, doch ein einziger Moment verändert alles in ihrem Leben.  


Laurent Petitmangin hat mit seinem Debüt ein ausdrucksstarkes beeindruckendes Gänsehaut-Leseerlebnis geschaffen. Hier spricht ein vom Schicksal geschlagener Vater und legt seine tiefsten Gefühle den LeserInnen schonungslos offen. Dieser namenlose Mann hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Als seine Frau mit 44 Jahren an Krebs erkrankt, muss er sich um seine Söhne Fus, 10 und Gillou, 7 Jahre alt, allein kümmern. Ihr Tod lässt keine Zeit für Trauer, der Vater muss funktionieren. 

Immer wenn er nicht weiter weiß, spricht er im Gedanken mit "Mutti", doch die Antwort bleibt aus. Die anfänglichen Familienausflüge werden weniger und die beiden Brüder sind sich selbst überlassen. Fus findet sich in der Schule nicht mehr zurecht; er sucht außerhalb der Familie Halt, den ihm eine rechtsextreme Gruppierung zu geben scheint. Die Scham über den fehlgeleiteten Sohn wandelt sich in Resignation, als er selbst von den Nachbarn mehr oder weniger nur ein Schulterzucken über die Nähe des Sohnes zur Front National erfährt. 

Fortan schweigen Vater und Sohn, auch wenn es den Vater innerlich zerreißt. 

 "Die ganze Wut blieb in mir drin, schnürte mir die Brust zu, verbrannte meine Lungen, aber sie platzte nirgendwo heraus. Im Gegenteil, meine Beine fühlten sich auf einmal an wie Watte, meine Arme nutzlos und paralysiert."

Jeder weitere Leseabschnitt zieht nicht nur Fus, seinen Bruder und den Vater immer näher an den Abgrund, sondern auch die LeserInnen. Man möchte den Vater an den Schultern rütteln und rufen: "Wach doch endlich auf, tu was". Man fühlt so sehr mit den Protagonisten und ist sich der Ohnmacht der Situation bewusst. 

 "Das unser aller Leben, trotz seiner scheinbaren Geradlinigkeit, nur aus glücklichen oder unglücklichen Fügungen, zufälligen Begegnungen und verpassten Gelegenheiten bestand. Unser Leben war voll von diesen Nichtigkeiten, die uns, je nachdem, was uns sicher geschah, zu Königen der Welt oder Sträflingen machten."

Tatsächlich habe ich bis zum Schluss in Fus einen von den "Guten" gesehen. Seine Bemühungen um seinen Bruder Gillou sind herzlich, die ruhige Stimmung, die er verbreitet, strahlt Harmonie aus. Man kann nicht glauben, warum dieser sympathische Mann sich von offensichtlich extrem orientierten Menschen beeinflussen lässt. 

Passend zur französischen Präsidentschaftswahl 2022 kann dieser Roman nicht aktueller und brisanter sein. Unterschwellig eingeflochtene gesellschaftskritische Anmerkungen zur Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiterklassen sowie die Ohnmacht der Parteien zeigen einen möglichen Aspekt auf, warum es zu diesem schicksalhaften Wendepunkt im Leben der Familie kam. 

Dieser Roman endet nicht, nachdem man den Buchdeckel geschlossen hat. Das Warum hallt nach und hinterlässt ein flaues Gefühl. Unbedingt lesen!

Von mir gibt es 5 von 5 Punkten


Buchinformationen
Erschienen: 16.03.2022
Verlag:  dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-29012-8
Fester Umschlag
Seiten: 160





Sonntag, 10. April 2022

Die Alpen im Fieber von Andreas Jäger


Ein sachlich anschaulicher Weckruf zur Rettung der Alpen


Als Meteorologe beschäftigt sich Andreas Jäger seit Jahren mit Wetterphänomenen und Veränderungen des Klimas. In diesem Sachbuch gibt er einen Einblick auf die Alpen, wie wir sie kennen, wie es in der Vergangenheit und vermutlich bald in der Zukunft um sie stehen wird. Konsequent zum Thema erscheint das Buch in einem klimaneutralem Druckprodukt.
 
Interessant ist die Gliederung, die in drei Hauptteile aufgeteilt ist. Ein Rückblick in die Vergangenheit gibt Aufschluss über frühere Veränderungen, die für den Menschen lebenswichtig waren. Der Alpenraum mit all seinen wunderschönen und wirtschaftlich katastrophalen Aspekten wird im zweiten Teil beschrieben und im letzten Abschnitt dann der Ausblick in die nahe Zukunft. 
 
Das Sachbuch vermittelt durch einen für mich sehr lockeren, umgangssprachlichen Stil, was durch den Klimawandel an Zerstörung und Gefahr auf die Menschheit zurast. Anhand von einfachen, anschaulichen und gelungenen Illustrationen von Lana Bragin wird der Text aufgelockert und verständlich aufbereitet. Einen Index habe ich dagegen sehr vermisst. Gerade bei einem Sachbuch möchte man gern direkt zu einem Stichwort, z.B "Albedoeffekt" springen und nicht erst durch alle Kapitel blättern.
 
Auch wenn dieses Buch einen wichtigen Appell beinhaltet, ist mir die Zielgruppe nicht ganz klar geworden. Es gibt viele Sätze, die eher in einem Jugend-Sachbuch aufgehoben wären.

 "Aber das ist immer noch nicht alles, was die Alpen zu bieten haben. Wir müssen noch über den Föhn sprechen, auch wenn der manchen Kopfweh bereitet."

Gleichzeitig schrecken sachlich und mit vielen Fremdwörtern gespickte Fachbücher bestimmte LeserInnen ab. Der Versuch möglichst viele Menschen für dieses wichtige Thema zu gewinnen, kann möglicherweise durch eine Vereinfachung der Sprache gelingen. 
 
"Besonders schwer wiegt aber der Albedoeffekt: Dunkle Wälder absorbieren viel mehr Sonnenlicht als Eis und Schnee, was die Erwärmung ebenfalls anheizt."
 
Vieles ist nicht neu, aber zusammengefasst ist ein weltweiter Rückblick, beispielsweise auf das Jahr 2021 beängstigend und aufrüttelnd. Natürlich kann auch Andreas Jäger keine einfache Lösung zur CO2-Reduzierung anbieten, aber er regt zum Nachdenken an. 
 
Dieses Buch ist wichtig, um möglichst viele LeserInnen zu erreichen und ein aktives Klimabewusstsein zu wecken. Als Einstieg in das Thema sicher hilfreich.
 
Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 19.10.2021
Verlag:  Bergwelten Verlag
ISBN: 13 9783711200327
Fester Umschlag
Seiten: 256