Dienstag, 21. April 2020

Milchmann von Anna Burns

    Erscheinungsdatum: 22.02.2020     Verlag: Tropen Verlag     ISBN: 9783608504682     Fester Einband: 452 Seiten            Meine Bewertung: 4 von 5 Punkten 
  Mitten im Nordirland-Konflikt findet ein bekannter,
  allseits geschätzter Untergrundkämpfer Interesse an
  einer 18-jährigen jungen Frau. Der "Milchmann" verfolgt
  sie, lauert ihr auf und droht unterschwellig mit Folgen,
  sollte sie ihren Freund weiter treffen. Über allem brodelt
  die Gerüchteküche, die ihr schon jetzt eine Affäre mit
  ihm nachsagt, sie quält und ihr Angst macht. Denn hier
  in diesem Stadtteil hat jeder seine Rolle, verlässt er sie,
  wird es gefährlich.

Dieser Roman fordert den Leser, gibt ihm Rätsel auf und lässt keine Abschweifungen zu. Die Autorin
Anna Burns Anna Burns verzichtet auf Absätze, Lese- und Atempausen. Wer der 18-jährigen Ich-Erzählerin in ihrem Rückblick im Roman folgen möchte, muss sich darauf einlassen. Der einleitende Satz bereitet schonungslos den Aufbau der Erzählung vor. Denn hier geht es zwar um einen deutlich älteren Stalker, der Interesse an einer jungen Frau hat, doch findet das Ganze auf einem Pulverfass voller Gewalt und Reglementierungen statt. Die ausschweifende Gedankenwelt der Erzählerin lässt den Leser häufig an seine Grenzen kommen. Gerade war man noch mitten in einer Handlung und plötzlich zeilenweise Abhandlungen über einen Himmel und dessen Färbung, bis man in dieser Ringkomposition zurück zur eigentlichen Handlung gelangt. Es strengt ohne Frage an, diesen Monologen zu folgen, aber der geniale Schreibstil entschädigt für einige doch sehr lang ausgefallene Passagen.
"Sie meinte Depressionen, denn die hatte Pa gehabt: gewaltige, schwere, drängende, satte, ansteckende, Schwarze-Wolken-Krähen-Raben-Dohlen-haufenweise-Särge-metertiefe-Katakomben-zu-ihren-Gräbern-kriechende-Skelette-klappernde-Knochen-Depressionen."
Ich liebe solche akrobatischen Wortspiele, die so viel Emotionen vermitteln.Das Leben der Erzählerin in Nordirland folgt festen Regeln. Dennoch ist man ständig auf der Hut nicht das Misstrauen der Nachbarschaft zu erregen. Hier bespitzelt vermeintlich jeder jeden, denn die Angst prägt die Menschen. Selbst die Aktivitäten der Untergrundkämpfer und deren "Feinde" scheinen festen Regeln zu unterliegen. Wer hier lebt, hat sich anzupassen oder geht unter. Wer zu viele Gefühle zeigt, macht sich verdächtig, wer Zuneigung und Liebe sucht, ist auffällig. Nicht von ungefähr verzichtet die Autorin im Roman auf Namen, hier gibt es nur Titel, Bezeichnungen. Der Leser wird auf Abstand gehalten.

 "Er wurde von der Person, die er liebte, so sehr zurückgeliebt, dass er das verwundbare Geben und Nehmen nicht mehr aushielt und die Beziehung beendete, um es hinter sich zu bringen, ehe er sie verlor oder sie ihm entrissen wurde, vom Schicksal oder von einem anderen. ... Also versuchte Bruder, sich seiner größten Angst zu entledigen, dem hypothetischen Verlust dessen, was ihm am allerwichtigsten war, in dem er sich stattdessen mit einer Stellvertreterin begnügte."

So versucht auch die Ich-Erzählerin sich aus allem herauszuhalten, nicht aufzufallen, mitzuschwimmen. Aber gerade ihr Schweigen zur vermeintlichen Affäre, ihre ungewöhnliche Art im Gehen zu Lesen und ihre Distanz zu anderen, lassen sie auffällig erscheinen. Ich habe diesen Roman als Mahnung verstanden. Was geschieht mit uns, wenn wir in einem Mikrokosmos voller Gewalt und Tod leben. Wo an jeder Ecke Gefahr droht, jeder ein potenzieller Feind sein könnte. Dieser Roman rüttelt auf und fesselt durch seinen unnachahmlichen Schreibstil. Wer sich der Herausforderung stellt und wohl auch durch einige Seiten quält, wird am Ende davon gefesselt sein.

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