Dienstag, 28. Dezember 2021

Wolkenkuckucksland von Anthony Doerr


Wenn die Welt um einen herum wankt und man keinen Halt findet, geben Geschichten, die zu Träumen werden, neue Zuversicht. So ergeht es Anna und Omeir 1453 während der Belagerung Konstantinopels, Zeno und Seymour 2020 in Idaho und Konstance in der Zukunft im Raumschiff "Argos". Ein antikes Manuskript mit einer Geschichte über ein magisches Land in den Wolken überdauert Zeit und Raum und wird zum Begleiter all dieser unterschiedlichen Menschen.   


Anthony Doerrs Roman ist eine Liebeserklärung an alle Geschichten, die uns so fesseln, faszinieren und in ihren Bann ziehen. Das Papier, auf den diese Schätze geschrieben stehen, ist nicht von Dauer. Doch geliebte Geschichten werden immer weiter erzählt, neu aufgeschrieben und im Herzen getragen. Genau dies passiert mit der utopischen Geschichte des Wolkenkuckuckslandes.  

 "Blättere eine Seite um, folge dem Gang der Sätze: Der Sänger tritt hervor und bläst den Atem einer Welt voller Farben und Geräusche in deinen Kopf"

Was anfänglich beim Lesen verwirrt, sind die zeitlichen und örtlichen Sprünge. Von der Zukunft in das Jahr 1453 und zurück in eine Passage der geheimnisvollen Suche Aethons nach dem Land in den Wolken. Doch je länger man liest, desto mehr nimmt einen die Magie des Romans gefangen. Man möchte gar nicht mehr aufhören zu lesen und gleichzeitig hofft man, nicht zu schnell dem Ende nah zu sein. Die unterschiedlichen Handlungsstränge finden über die gemeinsame Verbindung der historischen Geschichte immer wieder zusammen, sodass man leicht in die unterschiedlichen Zeiten eintauchen kann.

Der Roman bietet viel Platz zum Nachdenken und Innehalten. Die Zerstörung der Natur und des Lebens durch den Menschen findet genauso einen Platz wie die Gabe, sich durch Geschichten in andere Welten zu träumen und dadurch neue Kraft zu finden. Ein Hauch griechische Lyrik und Mythologie zeigt, wie überdauernd und aktuell Erzählungen sein können.

Durchzogen von spannenden Momenten, liebevollen Gesten und überraschenden Erkenntnissen werden erst nach und nach immer mehr Zusammenhänge sichtbar, die einfach pure 525 Seiten Lesefreude garantieren.

Mich hat dieser Roman durch die wundervolle Sprache, die Leidenschaft und die Lebendigkeit der Protagonisten begeistert und daran erinnert, warum ich so gerne lese und die Geschichten ins Herz schließe.


Von mir gibt es 5 von 5 Punkten


Buchinformationen

Erschienen: 03.11.2021
Verlag:  C.H.Beck
ISBN: 9783406774317
Fester Umschlag
Seiten: 532





Sonntag, 26. Dezember 2021

Heimweh von Graham Norton



1987 endet ein unbeschwerter Ausflug mit einem tragischen Unfall, bei dem es tote und schwer verletzte Jugendliche gab. Jeder in dem kleinen irischen Ort Mullinmore ist betroffen. Für den jungen Connor, der den Wagen gefahren hat, scheint es nur eine Lösung zu geben: Nach der Gerichtsverhandlung den Ort und seine Familie zu verlassen. In England ist er auf sich gestellt, ein Fremder, der mit der Vergangenheit nicht abschließen kann.  


Graham Norton hat einen sehr berührenden Roman über das Schicksal eines jungen Mannes geschrieben. Die Schuld, die auf seinen Schultern lastet, ist deutlich spürbar. Der Unfall allein wäre schon Last genug, doch man ahnt, dass es mehr als nur diesen Vorfall gegeben hat, die Connor verzweifeln lassen. Das irisch ländliche Umfeld mit festen Regeln und der Enge familiärer Beziehungen kann einem Halt geben oder wie in Connors Fall eine Mauer aus Ablehnung und Unerreichbarkeit bilden.

Bis ins Jahr 2012 begleitet man Connor in seinen besten und schlechtesten Zeiten. Melancholie und Trauer ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman. Wer verdrängt und verleugnet, scheint keinen Platz im Leben zu finden. Bis zu diesem Punkt ist man sich sicher, die ganze Geschichte schon zu kennen. Dann wendet sich die Handlung in eine ganz andere Richtung und die Vergangenheit wird neu betrachtet.

Das Leben der Überlebenden des Unfalls wird in den Fokus gerückt. Die Handlung nimmt an Tempo zu und Connors Leben wird umso tragischer, je mehr man über die weiteren Protagonisten erfährt. Es gibt einen Wendepunkt, der Hoffnung verspricht und vom Autor auch gut gelöst wurde. Allerdings ist dies auch der Teil, der für mich viel zu viel Länge erhalten hat. Es werden noch unzählige Gefühlsschleifen gezogen, die das eigentliche Ende überfrachten.

Hörenswert ist der Sprecher Charly Hübner, der mit seinen unterschiedlichen Stimmfarben jeder Person gerecht wird. Die Protagonisten erhalten so eine Lebendigkeit, die sie durch reines Lesen nicht erreicht hätten. Dies hat diesem deutlich düsteren Roman sehr gutgetan.

Tatsächlich bin ich hin- und hergerissen. Die Handlung und die darin versteckte Botschaft ist sehr interessant. Allerdings gab es für mich zu viele Längen, die die Story um ein gutes Ende gebracht haben.

Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten


Hörbuchinformationen
Erschienen: 19.10.2021
Verlag:  Argon
ISBN: 9783839819241
Audio CD
Hörlänge: 9 Std. 19 Min.





Donnerstag, 23. Dezember 2021

Liebe in Zeiten des Hasses von Florian Illies


Die Dreißigerjahre sind gerade in. Fernsehserien, Bücher, Biografien und Sachbücher findet man überall. Warum fühlen wir uns so von diesen vergangenen wilden Zeiten angezogen? Florian Illies hat ein spannendes und vor Lebendigkeit strotzendes Sachbuch geschrieben, das meine Neugier geweckt hat.   


Durch die in Präsens geschriebenen kurzen Detailbeschreibungen fühlt man sich direkt ins Zeitgeschehen hineinversetzt. Man schaut Bertholt Brecht, F. Scott Fitzgerald oder Erich Kästner direkt über die Schulter. Marlene Diedrich bricht gerade jetzt wieder einmal einem Mann das Herz. 

Die Begeisterung, die der Autor den agierenden Personen schenkt, ist deutlich spürbar. Jedes kleinste Detail wurde recherchiert. Sogar der Wetterbericht, wie zum Beispiel im April 1932 in Porto Ronco ist nicht zufällig beschrieben, sondern authentisch wiedergegeben. So kann man sich vorstellen, wie Erich Maria Remarque unter einem klaren Himmel in der Bar steht und den Tag genießt.

Bei der berühmten Personendichte hatte ich zunächst die Befürchtung, die Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Zeitlich klar strukturiert werden die Jahre 1929 bis 1939 in drei Abschnitte "Davor", "1933" und "Danach" aufgeteilt. Innerhalb der Abschnitte springt der Autor von Person zu Person. Kaum hat man sich orientiert, springt man zu einem völlig anderen Geschehen, um mehrere Seiten später, wieder an den Ort des Geschehens zurückzukehren.

Dem Autor ist es aber hervorragend gelungen, trotz all der kurzen Passagen und unterschiedlichen Personen- und Ortsangaben dem Leser ein gelungenes Lesevergnügen zu bescheren. Humorvolle, skurrile und mitunter bizarre Details, die man tatsächlich so noch nicht gelesen hat, machen einfach Spaß. Überrascht hat mich auch, wie viele starke Frauen in diesen Jahren aktiv waren. 
 "Der Mann ist für die weiblichen Heldinnen der weiblichen Autorinnen meist nicht mehr als eine Sättigungsbeilage."

Die Liebe in so vielfältiger Form und Ausführung steht im Vordergrund. Manches war mir zu intim oder kam mir voyeuristisch vor. Da wird jeder sein eigenes Maß ansetzen müssen.

 "Die Liebe wird, wie jede Utopie, immer größer, je länger man auf sie wartet."

Am Rande spürt man den Tanz auf dem Vulkan, die Last, die nach einem überstandenen Weltkrieg auf allen lastet. Die Ungewissheit, wie es weitergehen soll und die Lust, das Leben zu genießen, solange man kann.

Einige Passagen haben mich auch schockiert oder fassungslos innehalten lassen. Besonders unfassbar habe ich es empfunden, über Anais Nin und ihre freiwillige Abtreibung im sechsten Monat zu lesen. Solche Momente, wie auch die Schilderung aus Leni Riefenstahls Leben haben mich Pausen einlegen lassen. Dies ist kein Buch, das schnell gelesen werden will. Vieles habe ich auch zweimal gelesen.

Vom kompletten Buch bin ich mehr als begeistert und werde es sicher noch mehrmals zur Hand nehmen, um in eine Zeit einzutauchen, die so unfassbar lebendig, außergewöhnlich und abenteuerlich gewesen ist. Pure, lebendige Kulturgeschichte.


Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 27.10.2021
Verlag:  S. FISCHER Verlag
ISBN: 9783103970739
Fester Umschlag
Seiten: 432





Montag, 22. November 2021

Sturmvögel von Manuela Golz


Emmys Welt besteht aus einer kleinen Insel in der Nordsee. Hier wächst sie in einfachen Verhältnissen, aber mit liebevollen Eltern auf, bis Krankheit und Krieg ihr die Eltern rauben. In den 20er-Jahren kommt sie als junges Mädchen nach Berlin, um als Dienstmagd zu arbeiten. Im Alter von 86 Jahren blickt Emmy zurück und denkt an die schwere Zeit während des Zweiten Weltkrieges, an Ehepflicht und heimliche Liebe. Aber auch daran, dass ihre Tage gezählt sind und sie ihr Erbe weitergeben möchte. Allerdings anders als ihre Kinder sich es heimlich erhofft haben. 


Manuela Golz hat sich von ihrer Oma zu diesem Familienroman inspirieren lassen. Auf verschiedenen Zeitebenen der Vergangenheit und Gegenwart wird Emmys Geschichte erzählt. Trotz all der Schicksalsschläge, die schon die kleine Emmy erleiden muss, findet sie immer einen Weg, um nach vorne zu schauen. Als alte 86-jährige Frau ist sie immer noch aufgeräumt, vorausschauend und liebevoll, aber durchaus mit Ecken und Kanten, die besonders ihrer ältesten Tochter zu schaffen machen. 

Der Schreibstil ist kurzweilig und unterhaltsam, bleibt dadurch aber auch zu sehr an der Oberfläche. Viele Szenen werden zu schnell wieder verlassen. Immer wenn es etwas in die Tiefe ging, sprang die Handlung an einen anderen Ort. Emmys Liebe zu einem Sohn aus reichem Haus ist solange reizvoll, bis sie schwanger wird. Hier hätte ich gern mehr über die Gefühle der Protagonistin gelesen. Besonders die schweren Jahre während des Krieges, in dem Emmy mit drei kleinen Kindern ums Überleben kämpft, gehen einem nahe. Man meint die Nähe der Autorin zur Romanfigur zu spüren. 

Die Gegenwart der alten Dame ist vorwiegend durch Handlungen ihrer erwachsenen Kinder geprägt. Hilde und Otto sind darauf erpicht zu erfahren, was ihre Mutter ihnen als Erbe vermachen wird. Diese unverhohlene Gier nach Geld und der Neid auf die aufgenommene Ziehtochter Anni der jüngsten Schwester waren für mich nur schwer nachvollziehbar und wirkten zu sehr am Reißbrett entworfen. Die Treffen der Geschwister, deren Dialoge und die anschließende Auflösung des ominösen Kellerfundes haben mich wenig in ihren Bann gezogen. 

Für mich ist die Mischung aus Vergangenheits- und Gegenwartsroman nicht aufgegangen. Die wundervoll schwunghafte und lebensfrohe Emmy hätte ich gern vertieft kennengelernt. So blieb sie am Ende doch ein wenig blass und nicht lange in Erinnerung. 


Für Lesefreunde leichter Kost ist dieser Familienroman aber sicherlich eine gelungene Herbstlektüre. . 

 Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen:  17.05.2022
Verlag:  DuMont Buchverlag
ISBN: 9783832166274
Flexibler Einband
Seiten: 380

Die Früchte, die man erntet von Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt


In der bisher ruhigen Kleinstadt Karlshamn geschehen innerhalb kürzester Zeit mehrere Morde. Vanja Lithner, die neue Leiterin der schwedischen Reichsmordkommission, gerät bei ihrem ersten Fall unter Druck, denn der Heckenschütze scheint seine Opfer wahllos auszuwählen. Zum Glück kann sie sich auf ihr gut geschultes Team verlassen, doch im Hintergrund gibt es auch hier immer mehr Spannungen.  


Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt  haben mit diesem Titel den 7. Teil der Reihe "Ein Fall für Sebastian Bergman" herausgegeben. Für mich war es der erste Fall, den ich gelesen habe. Trotz anfänglicher Skepsis angesichts der vielen Nebenhandlungen und Charaktere, die nichts mit dem Fall zu tun hatten, bin ich schnell eingestiegen. Auch wenn der Lesegenuss sicherlich intensiver ist, wenn man die vorherigen Bücher der Serie gelesen hat. Als Neueinsteigerin wurde ich von den  Autoren gut abgeholt. 

Überraschend ist, dass obwohl der Titel "Ein Fall für Sebastian Bergman" lautet, dieser gar nicht mehr aktiv im Polizeidienst ermittelt. Als gut gelaunter Großvater und Psychologe agiert er auf den ersten Seiten eher als Nebendarsteller. Den Wettlauf mit der Zeit bestreitet Vanja Lithner und ihr Team, um einen kaltblütigen Heckenschützen zu stellen. Obwohl die Ermittlungen rasant schnell zu Ergebnissen führen, ist die Jagd schwieriger als gedacht.

Der Spannungsbogen wird geschickt aufgebaut und erst im letzten Drittel merkt man, dass sich zwei Fälle herauskristallisieren. Protagonisten, die anfänglich blass und im Hintergrund agieren, rücken plötzlich in den Mittelpunkt und glänzen auf eine besondere Art und Weise. Dieser zweite Blick auf die Charaktere ist dann auch der spannendere Teil mit all seinen Abgründen. Das Wechselspiel der Gefühle wird gut wiedergegeben und man fühlt die Zerrissenheit des Ermittlerteams. 

Am Ende bleibt natürlich eine Frage offen, um Luft für den nächsten Band der Reihe zu lassen. Allerdings habe ich mich gefragt, was hier tatsächlich noch kommen kann. Ungewöhnlich viele Schicksale beuteln die Mitglieder der Reichsmordkommission. Für mich ein wenig zu viel an interner Problematik. 

Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Teil 7 der Reihe "Ein Fall für Sebastian Bergman"
Erschienen:  2.10.2021 
Verlag:  ROWOHLT Wunderlich
ISBN: 9783805250894
Fester Umschlag
Seiten: 512

Sonntag, 14. November 2021

Wenn ich wiederkomme von Marco Balzano


Ohne vorherige Ankündigung verlässt Daniela ihre Familie in Rumänien, um als illegale Pflegekraft in Italien zu arbeiten. Sie möchte sich und ihren Kinder ein besseres Leben ermöglichen. Besonders der zwölfjährige Manuel kommt mit der neuen Situation nur schwer zurecht. Als Filip, der Vater auch noch eine Stelle als LKW-Fahrer im Ausland annimmt, sind die Geschwister auf sich allein gestellt. Angelica als große Schwester muss sich neben ihrem Studium um den jüngeren Bruder kümmern, der ihr mehr und mehr entgleitet. Erst als Manuel einen schweren Unfall erleidet, kehrt seine Mutter zurück und setzt sich mit der Situation auseinander.  


Marco Balzano verbindet seinen leichten ruhigen Schreibstil mit einem brisanten Thema. Die Überalterung der Gesellschaft ist schon lange ein Thema. Die damit verbundene Pflegesituation wird aber selten so deutlich wie in diesem Roman behandelt. Ich hätte mir gewünscht, dass der Autor sein Nachwort als Vorwort verfasst hätte. Denn die realen Hintergründe zur Handlung haben mich weitaus mehr berührt, als der Roman es konnte. Es geht um rumänische Frauen, die vor der Armut im eigenen Land in die berufliche Illegalität Italiens flüchten und dort in eine belastende Situation geraten, die sie von den eigenen Familien entfremdet. Frauen, die niemals als Pflegekraft ausgebildet wurden und ganz andere berufliche Werdegänge haben, verdingen sich als billige Arbeitskräfte, um ihre Familien finanziell zu unterstützten. Dabei verlieren sie sich selbst und nicht selten enden sie im Burn-out oder Depressionen. 

In mehreren Zeitebenen und dreistimmiger Ich-Perspektive schildert der Autor den Alltag einer dieser Familien. Daniela verlässt ihre Familie und kurze Zeit später ist der Vater auch im Ausland verschwunden. Manuel ist der erste Erzähler, der seinen Alltag beschreibt. Obwohl seine Mutter ihm eine gute Schule ermöglicht und ihn jeden Tag anruft, wird die Verbindung zu seiner Mutter immer schwieriger. Nur sein Großvater gibt ihm ein wenig Halt und Zuwendung. Nachdem seine Mutter bereits vier Jahre in Italien verbracht hat, verursacht Manuel einen Unfall. Ob er diesen absichtlich verursacht hat, um seine Einsamkeit zu beenden, bleibt unklar.

 "Das Moped ist ins Schlingern geraten, und ich flog über die offene, baumlose Landschaft. Weit oben, schwebend wie eine Feder, ohne den Lenker loszulassen."

Die Schilderung von Daniela am Bett von im Koma liegenden Manuel bildet den Hauptstrang des Romans und hat mich am meisten berührt. Ungeschönt und eindringlich schildert sie ihrem Sohn rückblickend, was sie in Italien ertragen musste. Fast 24 Stunden kümmerte sie sich u. a. um einen alten Mann, der nur böse Worte und Abneigung für sie erübrigt hat. Besonders die wohnliche Nähe, die nie endende Bereitschaft und die erniedrigende Art, wie mit ihr gesprochen wird, haben mich getroffen. Ihre Schuldgefühle ihren Kindern gegenüber werden bei jedem kurzen, gefühllosen Telefonat mit ihnen größer und doch findet sie keinen Weg aus ihrer Situation heraus.

 "Ich kann nur Fotos anschauen, auf denen ich noch eine Mutter bin."

Der letzte Abschnitt wird aus Angelicas Sicht erzählt. Die ältere Tochter wirkt trotz all ihrer Aktivitäten eher blass und zurückgenommen. Auch sie will zusammen mit ihrem Ehemann direkt nach der Hochzeit das Land verlassen. Auf der Hochzeitsfeier keimt ein kurzer Hoffnungsschimmer für die Familie auf. Es bleibt aber doch der Eindruck, dass Flucht die einzige Möglichkeit in diesem Land ist. 

Mich hat dieser Roman noch lange begleitet und auch für das Thema Pflegearbeit sensibilisiert. Bisher habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, wie das Leben ausländischer Pflegekräfte aussehen mag. Orte, die von allen verlassen werden und nur von Kindern und Alten bewohnt werden, bieten keine Chance zur Rückkehr. 

Von mir gibt es 4,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 29.09.2021
Verlag:  Diogenes
ISBN: 9783257071702
Fester Umschlag
Seiten: 320

Dienstag, 9. November 2021

Die Telefonzelle am Ende der Welt von Laura Imai Messina



Sich von geliebten Menschen vor dem Tod verabschieden zu können, ist den Hinterbliebenen der Tsunami-Katastrophe 2011 in Japan nicht vergönnt gewesen. Viele wurden förmlich aus dem Leben gerissen und hinterlassen eine ungeheuer große und schmerzliche Lücke. Eine Telefonzelle in einem Garten am Meer scheint der Ausweg für viele Trauernde zu sein. Hier an diesem besonderen Ort trägt der Wind ihre Gedanken und Worte zu den Verstorbenen. Auch der Arzt Takeshi Fujita und die Radiomoderation Yui Hasegawa suchen Trost in Bell Gardia. Gemeinsam kehren sie immer wieder in den Garten zurück und nähern sich langsam und voller Ängste einander an.   


Laura Imai Messina Laura Imai Messina hat einen sehr bewegenden Roman geschrieben, der die Themen Verlust, Trauerbewältigung, Hoffnung und Liebe in feiner, leiser und schmerzvoll stiller Art umsetzt. Ein Ort, den es in Japan tatsächlich gibt, dient als Rahmenhandlung. Die Telefonzelle des Windes (https://bell-gardia.jp/the-phone-of-the-wind/) wird von tausenden Menschen aufgesucht, um unausgesprochene Worte mit geliebten Menschen auszutauschen. Am Ende findet sich ein ausführliches Glossar der japanischen Begriffe und Schriftzeichen, die es uns westlich orientierten LeserInnen vereinfacht, den Inhalt besser zu verstehen. 

Die Begegnung zwischen Yui und Takeshi wird sehr leise erzählt. Zwei Trauernde, die sich kennen und schätzen lernen und die gemeinsam regelmäßig die lange Fahrt von Tokio zum Garten der Telefonzelle auf sich nehmen. Ihre Geschichte wird in kleinen Abschnitten erzählt, die erst am Ende ein Gesamtbild zulassen. Besonders Yuis Trauer um ihre verstorbene Mutter und ihre kleine Tochter geht an Herz. Zu erfahren, dass die vermeintlich in Sicherheit befindenden geliebten Menschen ums Leben gekommen sind, muss einem schier den Verstand rauben. Yui muss bei jeder Fahrt mit Übelkeit kämpfen, wenn sie das grausame Meer sieht. 

Nach und nach kommen immer mehr Figuren zur Telefonzelle und werden ein Teil von Yuis und Takeshis Leben. Jeder hat seine eigene schreckliche Geschichte, die er zu verarbeiten sucht. Ein Vater, der nicht begreifen kann, warum sein Sohn während des Tsunamis so leichtfertig handeln konnte. Ein Sohn, der seinen Vater lieber tod als tieftraurig schweigend sieht und Takeshis Tochter Hana, die seid dem Tod ihrer Mutter nicht mehr spricht. 

Trotz all der Trauer erleben Takeshi und Yui Alltägliches. Diese kurzen Abschnitte erlauben es auch den LeserInnen Abstand von den traurigen Dingen zu nehmen, die einen beschäftigen. Kleine Details wie die Auflistung einer Bento-Box oder die Zusammenfassung einer Radiomoderation Yuis rücken den Focus zurück auf das Leben.
 "Wir müssen selbst Freude im Überfluss besitzen, um sie anderen schenken zu können."

Mir hat besonders das feinfühlige Herantasten an einen neuen Lebensabschnitt der beiden Protagonisten gefallen. Das Verständnis um die Trauer des anderen und dennoch die warme Zuneigung, die wie eine kleine Pflanze langsam Blüten entfaltet. Den Gedanken, über eine dem Wind überlassene Unterhaltung Verbindung zu Verstorbenen aufzunehmen, nehme ich mit und hoffe, so schnell keine Verwendung dafür zu finden. 

Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 15.03.2021
Verlag:  btb
ISBN: 978-3-442-75896-8
Fester Umschlag
Seiten: 352



Donnerstag, 4. November 2021

Der Donnerstagsmordclub (Die Mordclub-Serie 1) von Richard Osman



Die achtzigjährige Joyce hätte wohl nicht gedacht, dass ihr Einzug in die edle Seniorenresidenz in der Grafschaft Kent so viel Abwechslung und Spannung bieten würde. In Coopers Chase gibt es durchaus die klischeehaften Senioren, die mit Bastelrunden und Puzzleabenden ihre Freizeit gestalten. Nicht aber der Donnerstagsclub, der verdeckt unter einem neutralen Namen ungelöste Kriminalfälle aufzuklären versucht. Als dann tatsächlich ein Mord in unmittelbarer Nähe geschieht, sind Elizabeth, Ron, Ibrahim und Joyce, nicht immer zur Freude der örtlichen Polizei, in ihrem Element.   


Richard Osman hat mit seinem Debüt einen unterhaltsamen leichten Krimi mit einer wundervoll schrägen, charmanten "very britischen" Seniorengang geschaffen. Dies ist mein erstes Hörbuch, deren Hauptakteure alle weit über 70 Jahre alt sind und sich vor lauter Tatendrang als Mordermittler versuchen. Der Donnerstagsmordclub besteht aber auch aus Mitgliedern, die im Berufsleben als Gewerkschaftsführer, Geheimagentin, Psychiater und Krankenschwester tätig waren. Beste Voraussetzungen, um ehemalige Verbindungen zu nutzen und der Polizei immer einen Schritt voraus zu sein. Besonders Chief Inspector Hudson muss sich erst an die ungewöhnliche Unterstützung der älteren Herrschaften gewöhnen. Seine junge Kollegin Donna de Freitas wurde augenscheinlich von ihnen als Ehrenmitglied erkoren und fühlt sich sichtlich wohl im Seniorenkreis. 

Durch die beiden Sprecher Johannes Steck und Beate Himmelstoß wirkt die Handlung, die in mehreren Zeitebenen und wechselnden Perspektiven spielt, sehr lebendig und kurzweilig. Johannes Steck versteht es, die unterschiedlichen Charaktere herauszuarbeiten. Ron, der ehemalige Gewerkschaftsführer, hat mir sehr gefallen. 

Trotz all der Schmunzelmomente in denen die Senioren ihr Können unter Beweis stellen, wird nicht vergessen, dass es sich hier um alte Menschen handelt. Sie leben in einer Welt voller Krankheiten, Einsamkeit und natürlicher Tode, und auch wenn sie sich allen Herausforderungen stellen, geraten sie selbst an ihre physischen und emotionalen Grenzen. Es gibt sehr bewegende Momente, die man selten in einem Krimi findet und die ans Herz gehen. 

Die Handlung steigert sich langsam von einem Roman in einen Krimi hinein und beinhaltet so manche überraschende Wendung. Es tauchen Boxkämpfer, Drogendealer, Immobilienspekulanten, Nonnen und griechische Kriminelle auf, die allerlei mögliche Motive vorzuweisen haben. Weniger wäre hier aber mehr gewesen, denn so verliert sich die Handlung in zu viele Hinweise und Spekulationen und das Nachvollziehen dieser einzelnen Fäden fällt schwer.  

Überraschend gut und gelungen unerwartet kommt dann das Ende daher. Ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt und hatte Spaß, diese ungewöhnlichen Ermittler in Aktion zu erleben. Ob die Protagonisten tatsächlich Potenzial für eine ganze Serie haben, bleibt abzuwarten. 

Von mir gibt es 4,5 von 5 Punkten

Hörbuchinformationen
Erschienen: 03.05.2021
Verlag:  Hörbuch Hamburg
ISBN: 9783957132321
Dauer: 10 Stunden, 18 Minuten

Freitag, 22. Oktober 2021

Es kann nur eine geben von Carolin Kebekus



Gibt es wirklich nur Platz für eine Frau, die eine, die beste, die schönste, die intelligenteste? Oder lassen wir Frauen uns das nur oft genug einreden, damit wir es tatsächlich glauben. Carolin Kebekus räumt mit scheinbar gesetzmäßig fundamentierten Barrieren auf und macht Mut, eigene Wege zu gehen.  


Carolin Kebekus  hat mit diesem Hörbuch unglaublich unterhaltsam wichtige und längst aufklärungsbedürftige Dinge beim Namen genannt. Querbeet greift die Autorin und Leserin wichtige Themen auf und fordert zu mehr Frauensolidarität auf. Angefangen bei der Bibel, über Märchen, Politik, Kirche, Karneval, Wirtschaft und natürlich dem Fernsehen. Dabei erfährt man, wie es Carolin Kebekus selbst ergangen ist als aufstrebende Komikerin unter lauter Männern. Eine Quoten-Quatschmacherin sei genug, wenn eine Kollegin schneller war, konnte sie gleich zum nächsten Vorsprechen weitergehen. Als Nicht-Karnevals-Anhängerin war mir bisher gar nicht bewusst, dass der Kölner Karneval fast nur aus Männern besteht. 

Eine lange Passage widmet die Autorin Gamingplattformen, da sie selbst eine begeisterte Playerin - sagt man das so? - ist. Sie steht dazu, gern zu ballern und auch mal in die Rolle eines fiesen Typen zu schlüpfen. Hier wird nicht angeprangert, sondern auf ein Ungleichgewicht der Rollen hingewiesen. Frauen spielen eher leider noch die Nebenrollen. Heldinnen sind nicht gefragt oder sehr klischeehaft besetzt.  

Die Kirche bekommt dann richtig ihr Fett weg und dies nicht nur in einer Passage, sondern durchgehend in unverblümter, klarer Sprache. Ich habe mich gefragt, ob diese gestandenen Kirchenmänner wohl noch rot werden können. Rot werden kann man dann auch als Frau, wenn es um sogenannte Tabuthemen geht, die natürlich eigentlich gar keine sind. Die Jagd nach verstreuten Tampons, die aus der Handtasche fallen, kennt wohl jede Frau. Unbequem, herrlich ehrlich plaudert Frau Kebekus über Menstruation und all den daraus resultierenden Nebenschauplätzen. 


Selten habe ich über ein gut recherchiertes Sachbuch dazu noch ein feministisches, so schmunzeln müssen und dabei Wissenswertes erfahren. Vor allem die glaubwürdig ehrlichen Aussagen über sich selbst machen Carolin Kebekus sehr sympathisch. Ich gebe für das Hörbuch eine unbedingte Hörempfehlung, denn wer könnte dieses Buch besser vortragen als die Autorin selbst.

Von mir gibt es 5 von 5 Punkten

Hörbuchinformationen
Erschienen: 07.10.2021
Verlag:  argon
ISBN: 9783839819289
Hörbuch
Hörlänge: 8 Stunden, 32 Minuten





Donnerstag, 14. Oktober 2021

ES WAR EINMAL IN HOLLYWOOD von Quentin Tarantino



Spiel mir das Lied vom Tod" wird vielen bekannt sein und so ist "Es war einmal in Hollywood" im Jahr 1969 wie eine Rahmenhandlung hinter den Kulissen zu verstehen.   


Quentin Tarantino skizziert das glamouröse Hollywood mit all seinen Skandalen, Sternchen, Stars und dunklen Seiten. Hauptakteur ist der Schauspieler Rick Dalton, der trotz größter Bemühungen einfach nicht groß heraus kommt. Sein Stuntdouble Cliff Booth ist mehr "Mädchen für Alles" für den einstigen Serienhelden als nur Stuntmen. 

Was im Film sicherlich großartig funktioniert hätte, bleibt im Hörbuch leider eher unspektakuläre Aufzählung von bekannten und oft gehörten Hollywood-Aktivitäten. Es wird viel getrunken, es gibt Affären, Besetzungsquerelen und natürlich schöne Frauen und Neid auf deren Liebhaber. 

Gerrit Schmidt-Foß gibt sich größte Mühe, dem Hörbuch mit seiner Stimme den passenden Stil zu verleihen. Die Charaktere arbeitet er gut heraus, wechselt zwischen naiver und durchtriebener Tonlage und hat offensichtlich Spaß am Sprechen. Im Film als Synchronisationsstimme bestimmt perfekt.

Mir fehlte eine durchgängige Handlung, etwas Spannung und Unterhaltung. All das, was ein Tarantino-Film locker geboten hätte. 

Vielleicht war meine Erwartungshaltung einfach zu hoch. Mir sind seine Filme dann wohl doch lieber. 

Von mir gibt es 2,5 von 5 Punkten

Höbuch-Informationen
Erschienen: 08.07.2021
Verlag:  argon
ISBN: 978-3-7324-1934-0
Hörbuch
Hördauer: 12 Stunden 7 Minuten





Montag, 11. Oktober 2021

Der Mauersegler von Jasmin Schreiber


Der beste Freund bleibt immer an deiner Seite. Doch das Leben spielt nach anderen Regeln. Prometheus, Arzt und Krebsforscher, wird damit konfrontiert, dass sein Freund Jakob an Krebs erkrankt und daran stirbt. Auf der Flucht vor seinen Gefühlen und dem, was er getan hat, landet er nach einer ziellosen Flucht in Dänemark. Ein älteres Damenpaar findet in hilflos am Strand und nimmt ihn kurzerhand bei sich auf. Hier findet er die Zuflucht, die er für seine Trauer benötigt. Doch die Schatten der Schuld lasten schwer auf ihm. 


Jasmin Schreiber hat einen einfühlsamen Roman über Freundschaft, Schuldgefühle, Hilflosigkeit und Erwartungsdruck geschrieben, der nachhallt und nachdenklich stimmt. Ihr Schreibstil lässt Worte wie Gefühlswellen über einen hinweg rollen. Mit dem Tod setzt man sich immer nur dann auseinander, wenn es sein muss. 
 "Die Farben des Herbstes mag ich mehr als die des Sommers, der Sommer ist mir einfach zu laut in den Augen."

Zwei gegenläufige Geschichten werden erzählt. Zum einen die Gegenwart, in der Prometheus auf der Flucht vor sich und allen anderen in Dänemark strandet und die Geschichte einer wundervollen Freundschaft, die in der Kindheit von Prometheus und Jakob begann und bis über den Tod von Jakob bestehen bleibt. Je mehr Rückblicke Prometheus einem gewährt, desto mehr kann man seine Trauer verstehen.

Marvin Prometheus und Jakob waren seit Kindheit an befreundet. Sie teilten Gedanken, Wünsche, Erlebnisse. Der ungelenke Prometheus und der wundervolle Jakob, der die Natur liebte und seinem Freund näher brachte. Besonders die Mauersegler tauchen immer wieder im Roman auf und stehen sinnbildlich für Prometheus Höhenflug und Fall. Ich habe viel über diese faszinierenden Tiere dazu gelernt.

Besonders ans Herz gegangen sind mir die Protagonistinnen Aslaug und Helle. Die beiden dänischen Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein und dennoch bilden sie als Paar eine kraftausstrahlende Einheit. Helle strahlt eine Freundlichkeit aus, die nicht nur Prometheus guttut. Naturverbunden und alten Riten folgend scheint sie zu spüren, wie es um ihre Mitmenschen steht. Aslaug dagegen wirkt unnahbar und tatkräftig. Dass sie ein unglaublich hartes Leben hinter sich hat, kann man erahnen, ist dann aber doch über dessen Ausmaß sprachlos. Ich könnte mir gut vorstellen, bei ihnen auf dem Ferienhof eine Auszeit zu nehmen, so heimelig wurde dieser Ort beschrieben.

Es ist gar nicht so einfach, Prometheus Schuld zuzusprechen oder eben auch nicht. Außerhalb der Rechtsprechung gibt es noch die Gefühlsebene, die nicht so einfach auszuwerten ist. Mir hat dieser gefühlvolle, traurige und dennoch voller warmer Emotionen gefüllte Roman sehr gefallen. Wenn auch die häufigen Gefühlsausbrüche des Protagonisten teilweise doch etwas überzogen wirkten und nicht notwendig gewesen wären.

Von mir gibt es 4,5 von 5 Punkten


Buchinformationen
Erschienen: 27.08.2021
Verlag:  eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0079-5
Fester Umschlag
Seiten: 240

Sonntag, 10. Oktober 2021

Das Tal in der Mitte der Welt von Malachy Tallack


Ländlich, einsam, weit weg von allem. Ein Tal auf den Shetlands bedeutet den Bewohnern alles. Ihre kleine verschworene Gemeinschaft lebt in einer eigenen zeitlosen Welt fern allen Trubels. Die Jahreszeiten und die Schafzucht bestimmen das ereignislose Sein. Nachdem die Dorfälteste Meggie verstorben ist, fühlt sich David für das Tal seiner Väter verantwortlich. Er sorgt sich um den Fortbestand der Traditionen, wenn niemand mehr bleibt und das Tal verwaist.


Malachy Tallack hat einen ruhigen, unaufdringlichen und dennoch einnehmenden Roman geschrieben. Man merkt seinen Sätzen an, dass hier ein Singer-/Songwriter Melodien in Geschichten verwandelt hat. Die Landschaft ist so deutlich spürbar, dass man sich sofort auf die Shetlands versetzt fühlt. In diesem Tal schließt niemand seine Haustür ab, denn wer außer den bekannten Nachbarn, sollte sich hierhin verirren. Die Beschreibung der Menschen und ihr Handeln entschleunigt und führt zum langsamen Lesen. Eigentlich passiert auch gar nicht viel. Monatelang begleitet man Schafzüchter David und seine Frau Mary, deren Beinaheschwiegersohn Sandy und die zugereiste Schriftstellerin Alice bei ihren Tätigkeiten

"Dieses Tal formte seine Gedanken Sein Gefälle, der sanfte Schwung der Landschaft. Irgendwie spiegelte es sich in ihm. Es war ein Teil von ihm, und er konnte diesen Ort genauso wenig verlassen, wie er ein anderer Mensch sein konnte. Diese Erkenntnis hatte ihn nie bekümmert. Ganz im Gegenteil. Es gab ihm eine klare Zielgerichtetheit, deren Fehlen ihm bei anderen auffiel. Das Leben wäre so viel einfacher, dachte er, wenn die Leute nur von einem Ort träumten." 

Eindringlich wird es immer erst dann, wenn es um Schafe geht. Fast schon dramatisch wird das Vergraben eines Lammkadavers beschrieben. Das Wohl der Tiere liegt David am Herzen und mit harter Hand versucht er Sandy sein Wissen weiterzugeben. Er möchte die Tradition erhalten und hofft darauf, dass das Tal wiederbelebt wird.  

Die zugereiste Alice sammelt Erinnerungen und Ereignisse für ein Buch über das Tal. Sie versucht dadurch, über den Verlust ihres Mannes hinwegzukommen. Sie ist nicht die Einzige, die etwas verdrängt und mit ihren Ängsten kämpft. Eine atmosphärisch beklemmende Tuchfühlung entsteht, die die Menschen sehr glaubhaft und real erscheinen lassen. 

Für diesen Roman muss man sich Zeit nehmen und sich dann treiben lassen. 
Von mir gibt es 4 von 5 Punkten


Buchinformationen
Erschienen: 14.06.2021
Verlag:  Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87611-5
Fester Einband
Seiten: 384




Samstag, 9. Oktober 2021

Die Verlorenen von Simon Beckett


Ein ehemals bester Freund bittet Jonah Colley um einen Gefallen. Dieser zögert nur kurz, um sich dann doch auf den Weg zu einem düsteren Lagerhaus zu machen. Dort erwartet ihn ein furchtbares Grauen, sein Freund Gavin ermordet und weitere Leichen, die offensichtlich grausam gequält worden. Doch ist dies nur der Anfang eines Martyriums, welches schon vor Jahren begann und Jonah wieder einholt.  


Simon Beckett startet mit diesem Thriller eine neue Serie eines ehemaligen Mitgliedes einer Polizeisonderermittlungstruppe. Jonah Colley hat durch einen privaten Schicksalsschlag sein Lebensziel verloren. Sein kleiner Sohn verschwand durch sein Verschulden und seine Ehe war danach nicht mehr zu halten. Dies erfährt man zu Beginn, doch die Einzelheiten bleiben unklar. Erst im Laufe des Geschehens werden durch Rückblenden immer mehr Details offengelegt. 
Puzzleteil wird an Puzzleteil gesetzt und die Figur Jonah wird greifbarer. Leider wird dadurch der durchaus hochgehaltene Spannungsbogen immer wieder unterbrochen.

Man ahnt, dass es etwas in der Vergangenheit geben muss, das zur Aufklärung des Geschehens führen wird. Merkwürdig fand ich den Ablauf der Handlungen. Jonah findet in der Lagerhalle Leichen und wird dort verletzt. Plötzlich steht er dann selbst unter Mordverdacht. Der skurrile und merkwürdig agierende Kommissar, der Jonah verdächtigt, bleibt eine rätselhafte Person, was vielleicht gewollt inszeniert wurde, um diese Figur in der Serie weiter auszubauen. 

Tatsächlich bin ich mit keinem der Protagonisten so richtig warm geworden. Viele Personen wirkten auf mich überzeichnet und nervig in ihren Aktionen. Selbst Jonah kann keiner Typform so richtig zugeordnet werden. Mal handelt er polizeilich korrekt und überlegt, dann übergeht er alle Gesetze und handelt gegen natürlichen Menschenverstand. Mir kam es so vor, als wenn der Autor möglichst viel Hintergrundinformationen über Jonah in diesen Thriller einweben wollte, um darauf aufzubauen.

Richtig spannend wird es aber erst im letzten Teil des Thrillers. Überraschende Auftritte und verwirrend und beängstigende Wendungen wechseln sich ab. Dann leider der für mich völlig aus dem Nichts entstandene Showdown, den ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte und mich etwas enttäuscht zurückgelassen hat. 

Johannes Steck hat als Hörbuch-Sprecher gekonnt die unterschiedlichen Figuren dargestellt. Man erkennt jeden Agierenden an der unterschiedlichen Stimmfärbung. Besonders die weiblichen Charaktere wurden überraschend gut dargestellt. Auf jeden Fall ein Bonuspunkt für den Sprecher, der der Handlung den besonderen Gänsehautfaktor verliehen hat. 

Dem zweiten Teil dieser Serie werde ich auf jeden Fall eine Chance geben. Vielleicht helfen dann die vielen Vorabinformationen, schneller einzusteigen. Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 08.07.2021
Verlag: Argon Verlag
ISBN: 9783839818503
Audio CD
Hörzeit: 11 Stunden 11 Minuten




Donnerstag, 30. September 2021

SCHWEIG! von Judith Merchant

Erscheinungsdatum:09.09.2021    
Verlag: KiWi-Verlag
ISBN: 9783462001334
Flexibler Einband
Seiten:
352
  
Leseprobe


Meine Bewertung: 
3,5 von 5 Punkten





Inhalt: Die Last der großen Schwester trägt Esther nun schon viele Jahre und auch dieses Jahr zu Weihnachten denkt sie an ihre jüngere Schwester Sue. Mit Wein und einem Geschenk macht sie sich auf die lange Autofahrt, um ihre frisch geschiedene Schwester mitten im Wald zu besuchen. Sue ist alles andere als begeistert und zum ersten Mal wehrt sie sich gegen die aufdringliche Art ihrer Schwester. Dinge, die längst vergessen waren, werden heraufbeschworen und man ahnt, dass dies nicht gut enden wird.

Judith Merchant spielt gekonnt mit Emotionen und Vorurteilen. Wer sich auf dieses Psychodrama einlässt, wird früher oder später Partei für eine der Schwestern ergreifen. Wenig später dreht sich das Blatt und man ist überrascht, wie schnell man ein Rollenbild akzeptiert hat, ohne die ganze Geschichte zu kennen. Jedes Kapitel ist einer Person gewidmet. Im Wechsel schaut man entweder Sue oder Esther über die Schulter. Am Ende spielt Esthers Mann Martin auch seinen Part in dieser schreckwirren Story.

 "Meine Schwester steckt voller Lügen. Es sind keine großen Lügen, es sind lächerliche kleine Dinge, die aber alle dasselbe Ziel haben. Sie entstellen die Realität in ihrem Sinne, lassen sie wie das Opfer aussehen, lenken von all ihren Privilegien ab - ihrem Reichtum, ihrer Freiheit, von alldem, was Menschen für sie tun, unablässig."

Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, spielen hier ihre Rolle. Esther nahm ihren Part als ältere Schwester schon als Kind sehr ernst. Sie manipulierte, überwachte und sorgte sich um ihre kleine Schwester, die offensichtlich ständig Unterstützung benötigte. Jetzt als verheiratete Ehefrau und Mutter ist sie für ihre Familie verantwortlich. Sue dagegen fühlte sich von ihrer Schwester fast schon bedroht und ihren übergreifenden Handlungen hilflos ausgesetzt. Allein lebend fern der Zivilisation, scheint ihr Leben gescheitert zu sein. Als erwachsene Frauen gehen sie sich inzwischen aus dem Weg. Nur an Weihnachten scheint es sie zueinander zu ziehen, doch die Gewissheit, dass es wieder zu einer Katastrophe kommen kann, schwebt über ihnen.

 "Seit Jahrzehnten habe ich im Umgang mit meiner Schwester dieselbe Strategie. Sie besteht aus Verteidigung, Ausweichen, Vermeidung."

Die Autorin setzt diesen einen Tag gekonnt in Szene. Es ist nicht die fast schon banal nebensächlich wirkende Handlung, die Spannung erzeugt. Es sind die überraschenden Wechsel, die durch die jeweils erzählende Protagonistin erzeugt werden. Nicht nur Sue fühlt sich von Esthers dauerndem "Schnecke" genervt. Ich mochte die Sätze auch nicht mehr lesen und hoffte, sie würde endlich damit aufhören. Mit jedem Rückblick in die Vergangenheit wird ein Schleier gelüftet und desto sicherer ist man, dass dieses Treffen kein Happy End nehmen wird. 

 Für mich war es kein wirklicher Thriller, da es einen kaum spürbaren Spannungsbogen gab. Vielmehr sind es die Protagonisten, die mit ihrer gestörten Sicht auf die Dinge die Spannung erschaffen. Ein Psychodrama der besonderen Art. 

Erwähnen muss ich aber auch, dass ich mich ein wenig über die Form des Taschenbuchs geärgert habe. Der Aufbau der Kapitel und breite Ränder verbrauchen sehr viel leeren Seitenraum und führen zu unnötigem Papierverbrauch. Es gibt sicherlich andere Stilmittel als Papier zu verschwenden.

Donnerstag, 26. August 2021

Unter Freunden von Cynthia D'Aprix Sweeney

Erscheinungsdatum: 24.07.2021    
Verlag:
Klett-Cotta Verlag
ISBN:
9783608984484
Fester Einband
Seiten:
352
  
Leseprobe


Meine Bewertung:
 2,5 von 5 Punkten 






Inhalt: Flora und Julian sind Schauspieler aus Leidenschaft. Genauso leidenschaftlich und temperamentvoll gestaltet sich ihre Ehe, bis Tochter Ruby geboren wird und sie von New York nach Los Angeles umziehen. Über die Jahre wird ihr Leben ruhiger und organisierter, dann findet Flora den vor langer Zeit verlorenen Ehering ihres Mannes in der eigenen Garage. Zweifel an ihrer glücklichen Vergangenheit ziehen auf und ihre beste Freundin Margot kann ihr diesmal nicht zur Seite stehen. Ist ihr Vertrauen in Julian stärker als ihr Misstrauen?

Cynthia D'Aprix Sweeney setzt ein leider viel zu oft im Leben stattfindendes Thema unterhaltsam, aber mit emotionalen Rissen in Szene. Eine in die Jahre gekommene Ehe, von der man ausgeht, dass sie immer noch glücklich ist. Das Vorzeigeehepaar Flora und Julian, deren Freunde alle behaupten, sie seien ein Traumpaar, hat zwar auch ihre Höhen und Tiefen, doch sie scheinen tatsächlich glücklich zu sein. Bis das Misstrauen erwacht, als Flora den lang verloren gegangenen Ehering ihres Mannes findet. Warum hat er behauptet, er sei in einem See abhandengekommen, wo er doch sicher verwahrt in einem Umschlag in der Garage liegt? 

Flora fühlte sich sicher und glücklich und erst der Ring weckt Fragen in ihr. Rückblickend erfährt man mehr über die Vergangenheit des Paares. Ihr Zueinanderfinden, die unbeschwerte Zweisamkeit und neue Freunde, die ihre langjährigen Weggefährten und eine Art Ersatzfamilie werden. 

Besonders das Leben als SchauspielerIn wird anhand von Julian und Floras Freundin Margot anschaulich beschrieben. Das Auf und Ab in der glitzernden Filmwelt, die Abhängigkeit von Erfolgen und der Umgang mit Misserfolgen. Der Blick hinter die Kulissen ist nicht neu, beschreibt aber eindringlich, mit welchen Problemen PartnerInnen erfolgreicher Menschen zu leben haben. 

Für mich blieb der Roman zu sehr an der Oberfläche und setzte falsche Schwerpunkte. Eine Frau, die nach zwanzig Jahren Ehe an der Treue ihres Ehemannes zweifelt, muss doch innerlich brodeln vor Angst und Unsicherheit. Wie stark ist die einstige Liebe und das in den Ehemann gesetzte Vertrauen. Der Rückblick auf das gemeinsame Leben kostet Kraft und verlangt eine Entscheidung, die man vielleicht schon längst in sich trägt.

 "Vergebung steigt nicht auf Feenflügeln aus dem Himmel zu dir herab, damit du Ja oder Nein sagen kannst. Vergebung ist Arbeit."

Teilweise wurden Nebenschauplätze eröffnet, die den Spannungsbogen unterbrachen und nichts zur Handlung beitrugen, wie die verwöhnte achtzehnjährige Tochter des Paares, die eher nervig als interessant war. 

Ich hatte eine leichte, unterhaltsame Urlaubslektüre erwartet. Mich hat der Roman nicht unterhalten, sondern ungehalten zurückgelassen. Floras Unentschlossenheit und ihre Abhängigkeit von Mann und Freundin hat mich sprachlos zurückgelassen. Wer einen eher seichten Roman aus der Welt der amerikanischen Schauspielkunst lesen möchte, kommt hier aber auf seine Kosten. 

 

 



Donnerstag, 19. August 2021

Bergland von Jarka Kubsova

Erscheinungsdatum: 24.05.2021    
Verlag:
Goldmann (Wunderraum)
ISBN:
9783442316182
Fester Einband
Seiten:
288
  
Leseprobe


Meine Bewertung:
  5 von 5 Punkten


Inhalt: Die "Innerleit-Rosa" bewirtschaftet in den Vierzigerjahren auf 1670 m Höhe allein einen Bergbauernhof. Ihre Familie wird durch den Krieg zerstört und aus ihrer Ehe bleibt nur ihr Sohn. Hart und einsam ist der Kampf mit der Natur, den Rosa auf sich nimmt. Traditionen sind ihr wichtig und der viel gerühmte Fortschritt, den ihr Sohn Sepp so gern durchsetzen möchte, ist ihr ein Dorn im Auge. Jahre später hat der Tourismus auf dem Hof Einzug gehalten und Rosas Enkel Hannes und dessen Frau müssen sich anderen, aber genauso harten Herausforderungen stellen.

Jarka Kubsova, bekannt durch Sachbücher und Reportagen hat ihren ersten Roman veröffentlicht. Deutlich spürbar ist, wie intensiv sie sich auf dieses Bergabenteuer vorbereitet hat. Man fühlt sich sofort mitten im Geschehen und sieht die Natur und die darin hart arbeitende Rosa vor sich. Besonders die Naturbeschreibungen die ans Herz gehen und nachspürbar sind, haben mir besonders gefallen.

 "Mit zunehmender Kälte stellten die kleinen Pflanzen das Wachstum ein, zitterten in dem heulenden Wind, der jetzt wieder über die Kämme strich und vor dem sich aes Schwache beugen musste. In Rosa stieg die Furcht vor dem nahenden Winter auf, weil im Winter das Hofherz langsamer schlug."

Drei Generationen werden im Wechselspiel der Perspektiven dargestellt. Rosa ist ein sehr starker Charakter, der sich trotz aller Widrigkeiten durch Krieg, Tod und Unerfahrenheit nicht davon abhalten lässt, den Bergbauernhof durchzubringen. Zwei Generationen später kämpft Franziska auf dem "Innerleit-Hof" darum, den Standard als Ferien-Bauernhof aufrecht zu halten. Wie hart es ist, die pure Landlust für Feriengäste vorzuspielen, wird hier schonungslos und offen wiedergegeben. Die vermeintliche Idylle entpuppt sich als fast unmöglich umzusetzende Vorgabe des Bauernverbands. 

Frauen stehen in diesem Roman im Vordergrund. Mal als hart arbeitende Bäuerin, mal als Familien- und Vermietungs-Managerin, die auf die eine oder andere Weise an ihre Grenzen gelangen. Man spürt, wie zerrissen die Frauen sind und wie viel ihnen abverlangt wird. 

Besonders die aktuelle Zeitschiene, die den Ferienbauernhof betrachtet, stimmt sehr nachdenklich. Der Einblick hinter die Kulissen der vermeintlichen Landidylle zeigt, welche hohen Kriterien an einen touristisch genutzten Bauernhof gestellt werden. Die Verbindung zur Großmutter mit ihrer naturbelassenen Acker- und Gemüsebewirtschaftung zeigt einen neuen Weg auf, der Hoffnung auf ein neues Zeitalter gibt. Sanfter Tourismus, der teilnimmt und nicht zerstört. 

Für mich ein Lesehighlight.


Hier habe ich noch ein tolles Interview mit der Autorin gefunden: 




Wie viel von diesen Hügeln ist Gold von C Pam Zhang

Erscheinungsdatum: 28.07.2021    
Verlag:
S. FISCHER
ISBN:
978-3-10-397392-1
Fester Einband
Seiten:
352
  
Leseprobe


Meine Bewertung:
 4,6 von 5 Punkten 






Inhalt: Als Waisen ziehen die Schwestern Sam und Lucy mit einem gestohlenen Pferd und der Leiche ihres Vaters zu Zeiten des Goldrausches durch die Einöde der Prärie. Einziger Begleiter ist der Wind, der ihnen Erinnerungen zuflüstert und ihnen den Weg weist, um eine geeignete Stelle für das Grab des Vaters zu finden. Als Kinder chinesischer Einwanderer sind sie unerwünscht und wurzellos. Ihre Suche nach einem Zuhause, einer Identität bestimmt ihr Leben.

C Pam Zhang hat mit diesem Debütroman eine unglaublich intensive, schonungslose Geschichte erzählt, die nur durch die wundervoll poetische Sprachmelodie der Autorin erträglich bleibt. Es gab einige Stellen, an denen ich eine Pause einlegen musste, um mich zu sammeln und weiterlesen zu können. Das Schicksal der chinesischen Arbeitsmigranten wird so lebendig beschrieben, dass es einem die Sprache verschlägt.

 "Aus der Entfernung sehen die Hügel ihrer Kindheit hell und sauber aus. Sie hat genügend Regenzeiten erlebt, und immer versank alles im Schlamm. Dünne Erde verwandelte sich in Suppe, jeder Tag durchtränkt und aufgesaugt von den Gezeiten des Lebens. Aus der Entfernung erkennt man nicht, wie gefährlich der Westen ist, wie dreckig."

Der amerikanische Traum versprach Reichtum und ein Zuhause, doch für die chinesischen Eltern der elfjährigen Sam und der zwölfjährigen Lucy wird es ein unerreichbarer Traum bleiben. Statt des erhofften Goldes müssen sie Kohle abbauen, um zu überlegen. Sie werden ausgebeutet und verachtet. Viel zu schnell verlieren die beiden Mädchen ihre Eltern und ihren Halt. Sie klammern sich an das überlieferte Ritual, wie Tote zu begraben sind und transportieren den verwesenden Leichnam des Vaters Tag um Tag weiter, um ihn an einer vorherbestimmten Stelle zu beerdigen, damit er Ruhe findet. 

Diese Story allein ist schon romanfüllend, doch es finden sich noch mehr Themen, die ineinander verschlungen werden. Die Zerstörung und Ausbeutung der Natur durch Modernisierung und Wachstum wird eindringlich beschrieben. Ureinwohner, Tiere und Landschaften gehen verloren. Der bisher gefeierte Wilde Westen wird Stück für Stück demontiert. 

Die Grundstimmung ist geprägt von Verlust, Trauer und Hoffnungslosigkeit. Es ist keine leichte Kost, die die Autorin dem Leser vorsetzt und teilweise fühlte ich mich überfordert, so viel an negativen Ereignissen aufzunehmen. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen? Bis zum letzten Abschnitt war ich gefangen und bewegt von der Handlung. Dann fiel es mir doch schwer, den abrupten Wechsel der Geschichte zu akzeptieren. Zu sprunghaft und unglaubwürdig wechselten die Themen, die auf ein offenes Ende zuliefen. 

 "Wenn du sicher sein kannst, dass jemand deinen Namen ruft - dieses Gefühl hatte ich, als deine Ma mich ansah. Ich wusste, dass ich fast zu Hause war."

Mich hat dieser Roman noch lange beschäftigt und auf die wieder einmal nur mangelhaft offene Berichterstattung geschichtlicher Daten aufmerksam gemacht. Ein interessanter Roman, der es verdient, weiterempfohlen zu werden.

Donnerstag, 5. August 2021

Klimawandel - ein Appell von Fred Vargas

Erscheinungsdatum: 
26.07.2021    
Verlag: Lagato Verlag
ISBN:
9783955679460
Hörbuch
Dauer:
7 Std. 36 Min.
  
Hörprobe


Meine Bewertung: 
  4 von 5 Punkten



Inhalt: Die Medien berichten immer häufiger über den Klimawandel. Die Nachrichten über Waldbrände, Regenfluten und Wassermangel sprechen für sich. Doch immer noch sehen wir lieber weg, als selbst zu handeln. Fred Vargas widmet sich dem Thema Klimawandel aus ihrer Sicht. Bisher kannte ich die Autorin nur von ihren Kriminalromanen her. Aber als Forscherin liegt ihr das Wohl der Erde am Herzen.

Fred Vargas hat sich intensiv vorbereitet und berichtet mit detaillierten Informationen und Quellennachweisen über ihre persönlichen Ergebnisse. Das Thema ist nur schwer verdaulich und die vielen wissenschaftlichen Ausdrücke sind nicht gerade leichte Kost. Hilfreich ist hier die wunderbare Stimme von Elke Schützhold, die mit ruhiger und warmer Sprache der Autorin ihre Stimme leiht. Gekonnt wendet sich die Autorin direkt an den Hörer. Es ist einfacher, nur Fakten zu lesen und sich nicht selbst betroffen zu fühlen. Aber wenn man gefühlt im Dialog steht, dann rüttelt es auf und macht sehr nachdenklich.

 "So viel, damit ihr sicher seid, dass ich euch nicht irgendeinen Quark einer hysterischen Umweltaktivistin erzähle, o nein. "Von Leben oder Tod" Die Worte sind ausgesprochen. Von der UNO."

Um die Fakten und ungeheuerlichen Missstände leichter verkraften zu können, lockert die Autorin mit leichter Note den Text auf. Sie schweift bewusst ab und wird persönlich. Ein sogenannter automatischer Zensor greift als Stilmittel ein und holt die Autorin zurück zum Thema. 

 Ich finde es erstaunlich, dass dieses Buch so wenig Publicity erhalten hat. Es ist mutig, sich aus der kriminalistischen Komfortzone zu erheben und die eigenen Gedanken zu veröffentlichen. Personen des öffentlichen Lebens sollten sich viel häufiger für den Klimaschutz einsetzen, denn sie finden Gehör und können die Medien für sich gewinnen.

Durch die klaren Kapitel ist es möglich, die sieben Stunden des Hörbuchs zu unterbrechen und manches erst einmal sacken zu lassen. Es ist nicht einfach, so viele negative Fakten geballt zusammengetragen, aufzunehmen. Es hat mich sehr nachdenklich gemacht, denn wer will am Ende schon von sich sagen: Ich habe es gewusst und nichts getan.

Mittwoch, 4. August 2021

Das Buch des Totengräbers von Oliver Pötzsch

Erscheinungsdatum: 
31.05.2021               
Verlag: Ullstein
ISBN:9783864931666
Fester Einband
Seiten:
448
  
Leseprobe

Erscheinungsdatum: 31.05.2021
Verlag: 
Hörbuch  Hamburg
Laufzeit:
815 Minuten
ISBN:
978-3-95713-229-1


Meine Bewertung:
 4,6 von 5 Punkten 


Inhalt: Noch bevor Leopold von Herzfeldt seinen ersten Tag bei der Wiener Polizei antritt, begibt er sich sehr zum Ärger seiner neuen Kollegen an einen grausigen Tatort. Eine junge Frau wurde im Prater ermordet und gepfählt, eine Tötungsform, die der Aberglaube für Untote vorgesehen hat. Durch seinen forschen Auftritt mit ungewöhnlichen Tatortsichtungen verscherzt es Leopold sich gleich und landet bei einem scheinbar harmlosen Fall. Lediglich die Verbindung mit der Familie Strauß erfordert ein gewisses Maß an Zurückhaltung bei der Ermittlung. Hätte der kauzige Totengräber des Wiener Zentralfriedhofs Leopold nicht auf Ungereimtheiten hingewiesen, wäre der Fall sicherlich schnell ad acta gelegt worden. Die neu gewonnenen Erkenntnisse decken einen ungeahnten Skandal in höchsten Kreisen auf und Leopold gerät, allein auf sich gestellt, in höchste Gefahr.

Versehentlich habe ich ein Lese- und Hörexemplar des Krimis "Das Buch des Totengräbers" von Oliver Pötzsch angefragt. Aus der Not heraus entstand ein für mich ungewöhnliches Experiment. Ich habe gleichzeitig gehört und gelesen und habe es tatsächlich begeistert erlebt. Habt ihr auch schon einmal ein Hör-Lese-Erlebnis gehabt?

Die Reise ging nach Wien ins Jahr 1893. Begleitet habe ich den jungen Inspektor Leopold von Herzfeld bei seinen ersten Schritten in der Mordermittlung. 

Oliver Pötzsch ist mit dem Start dieser neuen Serie ein höchst unterhaltsamer, spannender und skurriler Krimiauftakt gelungen. Meine Skepsis ins Jahr 1893 zu springen und einen spannenden Krimi zu lesen, habe ich schnell verworfen. Man fühlt sich sofort ins Wien der Jahrhundertwende versetzt. Mit viel Charme und gut recherchiertem Hintergrundwissen werden die Protagonisten lebendig und auf ihre Art liebenswert skizziert. Mir hat vor allem die junge Telefonistin Julia Wolf gefallen. Die junge Frau kämpft sich mit einer enormen Willensstärke durchs Leben. Sie verbirgt ein Geheimnis, dass ihr die Stelle und damit ihre finanzielle Unabhängigkeit kosten würde.

Im Hörbuch glänzt der Sprecher Hans Jürgen Stockerl mit seinem ganz besonderen Wiener Schmäh. Die häufigen Dialektdialoge hätte ich als bekennende Norddeutsche nie im Leben richtig ausgesprochen. Hier war das Lesen und gleichzeitig Hören ein absolutes Highlight.

 "Mein Blut ist so lüftig und leicht wia der Wind, i bin halt an echt's Weanerkind ..."

Nicht nur die Handlung mit überraschenden Wendungen und grausigen Vorfällen hat mich in den Bann gezogen. Ganz nebenbei erfährt man viel über die Anfänge der Kriminalistik. Der Einsatz von Hilfsmitteln, um einen Tatort zu sichern und zu dokumentieren, steckt noch in den Kinderschuhen. Erst zögerlich werden Spuren gesichtet und Fotografien erstellt. Interessant ist auch der Almanach für Totengräber, der immer wieder zitiert wird. Augustin Rothmayer, der aus einer Wiener Totengräber-Dynastie stammt, ist der heimliche Held dieses Krimis. Hilft er doch immer wieder mit kleinen Details aus dem Reich der Toten, den Fall nach und nach aufzuklären.

Befangen haben mich die Schilderungen über das ärmliche Leben der Menschen gemacht. Wie selbstverständlich ist uns ein Dach über dem Kopf, ein Gehalt, das monatlich gezahlt wird. Die Industrialisierung führte zum Massenansturm auf Städte, denen auch Wien nicht gewachsen war. Wohnraum war knapp und selbst ein Grab konnte selten bezahlt werden. Das kleine Mädchen, das auf dem Friedhof nicht vom Grab ihrer Mutter weicht, ist sehr bewegend beschrieben worden.

Für mich ein überraschendes historisches Krimihighlight, das Lust auf Fortsetzung macht.