Montag, 21. März 2022

Dschinns von Fatma Aydemir


Nach einem harten "Gastarbeiterleben" zieht es Hüseyin zurück nach Istanbul. Hier möchte er seiner Familie endlich etwas bieten und richtet mitten in der Stadt eine große Wohnung her. Bevor seine Frau und Kinder die Wohnung mit ihm beziehen, erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt. Die Familie ist schockiert und reist in die Türkei, die ihnen fremd geworden ist.   

Fatma Aydemir rechnet schonungslos mit vielen Klischees ab. Der Schreibstil des Romans ist schnörkellos, realistisch und öffnet den LeserInnen die Augen. Es ist eine Herausforderung, die ich gern angenommen habe. Selten habe ich so direkt die Präsenz eines Charakters gespürt wie bei diesen Protagonisten. Die Themenvielfalt ist dabei fast zu viel des Guten. Identitätssuche, Traditionen, der Umgang mit Kindern und deren Erziehung, ungelebte Sexualität und Rassismus finden sich genauso wie fehlende Liebe und Aufmerksamkeit innerhalb der Familie. 
 
Jedem Familienmitglied wird ein Kapitel gewidmet, angefangen mit dem Ableben des Familienoberhauptes über die Kinder zur Mutter. Dabei spielt die Autorin gekonnt mit der Sprache und passt die Wortmelodie den Protagonisten an. Alter, Erfahrung und Schicksale sind deutlich zu erkennen und sprechen für sich. Mir ist es anfänglich schwergefallen, eine Handlung zu finden. Es fehlte die Tiefe, die sich aber je weiter man liest, immer mehr öffnet und mich in den Bann gezogen hat. 
 
"Er stand schüchtern in der Küche, die Hände in den Hosentaschen, und sagte, Baba, du lenkst mich vom Spielen ab, doch sein Vater wusste genau, worum es ging, und warf Ümit diesen Blick zu, von dem Ümit sich jetzt wünscht, es hätte ihn nie gegeben."
 
Dies ist der erst Roman, der mir aus einer anderen Perspektive das Leben zwischen zwei Kulturen aufgezeigt hat. Der Konflikt zwischen migrierten Eltern und deren Kindern, die in der zweiten Welt aufwachsen und das Verständnis für die elterlichen Wurzeln nur schwer nachvollziehen können wird spürbar herausgearbeitet. 
 
Über das Ende mag man streiten, wirkt es doch ein wenig überzogen. Das Thema in diesem Roman ist aber so wichtig und aktuell, dass man darüber hinwegsehen kann. Mir hat dieses Familienporträt sehr gefallen und zu vielen Denkanstössen angeregt. Eine Leseempfehlung für alle, die bereit sind, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.


Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 14.02.2022
Verlag:  Hanser Verlag
ISBN: 978-3-446-26914-9
Fester Umschlag
Seiten: 368





Dienstag, 15. März 2022

Der Pfad – Die Geschichte einer Flucht in die Freiheit von Rüdiger Bertram

Bis nach Marseille haben es der 12-jährige Rolf und sein Vater im Jahr 1941 geschafft. Die Überfahrt nach New York zur wartenden Mutter ist greifbar nah. Doch es fehlen die wichtigen Ausreisepapiere. Ihr letzter Ausweg führt über die Pyrenäen. Trotz Verbot des jungen Fluchthelfers Manuel nimmt Rolf heimlich seinen geliebten Terrier Adi mit auf den beschwerlichen Weg. Eine tragische Entscheidung, die sein Leben für immer verändern wird.  

Rüdiger Bertram hat mit diesem Jugendbuch und der daraus resultierenden Vorlage zum Kinofilm eine berührende Geschichte während des 2. Weltkrieges über zwei Jungen auf der Flucht über die Pyrenäen geschildert. Während des Lesens war dieses beklemmende Gefühl, was mich begleitet hat, nur auf die damaligen Verhältnisse beschränkt. Inzwischen ist das Wort "Flucht" tagesaktuell und fehlt in keiner Nachrichtensendung. Ob Menschen 1941 oder 2022 auf der Flucht waren und sind, spielt keine Rolle, denn es geht immer um furchtbare Einzelschicksale, die unbegreiflich und traurig sind.
 
Wer dieses Buch liest, bekommt vielleicht ein wenig Hoffnung und glaubt daran, dass auch nach schweren Schicksalsschlägen das Leben weitergehen kann und muss. 
 
Rolf ist ein quirliger Junge, der mit seinem Vater in Marseille auf die Überfahrt nach New York wartet. Als Autor von den Nazis verfolgt, hat sein Vater nur die Chance, sein Leben im Exil weiterzuführen. Geschickt hat er seinen Sohn auf die gefährliche Reise vorbereitet. Mit dem Spiel "Gut oder böse?" beobachten die beiden bei ihren täglichen Aktivitäten andere Passanten. So lernt Rolf die Menschen genauer anzuschauen und sie einzuschätzen. In diesen schwierigen Zeiten eine Fähigkeit, die über das Überleben entscheiden kann. 
 
Der Hirtenjunge Manuel und das Stadtkind Rolf sind in den Pyrenäen allein auf sich gestellt. Ihre anfängliche Abneigung wandelt sich nach und nach zu einer engen Freundschaft und zeigt, dass sich auch die unterschiedlichsten Menschen verstehen, wenn sie sich aufeinander einlassen und die Sicht des anderen respektieren. 
 
Besonders schön fand ich die Annäherung der Jugendlichen über das Buch "Der 35. Mai" von Erich Kästner. Rolf hat dieses Buch direkt vom Autor geschenkt bekommen und hütet es wie seinen Augapfel. Täglich liest er darin und fühlt sich ein wenig geborgen und an sein Zuhause erinnert. Er liest Manuel daraus vor und gemeinsam können sie dem gefährlichen Alltag ein wenig entfliehen und über die Texte lachen. Ich kannte Kästners Werk bisher nicht und muss dieses quirlig bunte Kinderbuch unbedingt lesen.
"Schon auf der Straße werden Onkel und Neffe von dem rollschuhlaufenden Zirkuspferd Negro Kaballo angesprochen." (Erich Kästner - Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee)
Obwohl das Thema sehr ernst ist und auch die ein oder andere Träne beim Lesen fließt, gibt es unterhaltsame und fröhliche Momente. Die Sprache ist einem Jugendbuch angemessen und leicht verständlich. Die Kriegssituation wird deutlich herausgearbeitet, bleibt aber sprachlich auf einer ruhigen Ebene, die ohne grausige Details auskommt. 
 
Da es sich um einen Roman zum Film handelt, findet man farbige Filmfotografien und eine Erklärung des Autors im Nachwort, warum Film und Roman ein wenig voneinander abweichen. 
 
Das Schicksal dieser beiden Jungen hat mich bewegt und sehr nachdenklich zurückgelassen. Die Nähe zu plötzlich aktuellen Geschehnissen lässt meine Gedanken an gerade flüchtende Kinder nicht los. 
 
Ich werde mir den Film zum Vergleich anschauen, auch wenn ich sicherlich vom Buch mehr angetan sein werde, da ich Kopfkino einfach lieber mag.

Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 10.01.2022
Verlag:  cbj Verlag
ISBN: 9783570314678
Flexibler Einband
Seiten: 240

Trailer zum Film




Dienstag, 8. März 2022

Grenzfall - Ihr Schrei in der Nacht von Anna Schneider


Menschen verschwinden und nicht immer steckt ein krimineller Akt dahinter. Doch als in Innsbruck  zwei junge Frauen vermisst werden, setzt Kommissar Krammers Kollegin auf ihr Bauchgefühl. Ihre Ermittlungen erhärten den anfänglichen Verdacht und als in Deutschland weitere Personen gesucht werden, entwickelt sich eine grenzüberschreitende Jagd nach einem grausamen Täter. 


Anna Schneider setzt mit diesem Kriminalroman die Reihe um das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer fort. Obwohl ich den ersten Band nicht gelesen habe, fehlten mir zu keinem Zeitpunkt Informationen zu Personen oder Handlung. Der flüssig lockere Schreibstil ermöglicht einen schnellen Lesefluss, der einen von Seite zu Seite trägt. 
 
Die Handlungsstränge wechseln zwischen Deutschland und Österreich und den zugehörigen Ermittlerteams. Auch wenn man durch den Titel schon auf einen "Grenzfall" vorbereitet ist, scheinen die anfänglich vermeintlich völlig verschiedenen Fälle nichts gemein zu haben. Gekonnt lässt die Autorin die Leserschaft im Dunkeln tappen und präsentiert mögliche Täter, die sich alsbald als ermittlerische Sackgasse entpuppen. 

Besonders die Schilderung der unterschiedlichen Charaktere mit ihren regionalen Eigenarten treten hier positiv heraus. Man hat förmlich den groben und gefühlskalten Vater der vermissten Tochter vor Augen. Man nimmt an der Gedankenwelt der Ermittler Krammer und Jahn teil und erfährt viel über ihr Privatleben und die schwierige Beziehung, die die beiden verbindet. Dies macht sie nahbarer und ihr Handeln wirkt "real". 

Fast schon zu viel - auch wenn die Umsetzung sehr gelungen ist - sind die Sprünge zu den Opfern. Die Darstellung der Verletzungen und ihrer Angst war sehr detailliert und brutal. Für mich hätten Andeutungen ausgereicht, um mein Kopfkino zu aktivieren. Sehr interessant war die Einflechtung einer tatsächlich existierenden Internetgruppierung, die absolut perfide und grauenhaft agiert. 

Der Spannungsbogen wird langsam aufgebaut und überschlägt sich am Ende fast bis zu einem kinoreifen und dramatischen Ende. Ein Wollknäuel voller offener Fäden verspricht eine rasante Fortsetzung, die ich gespannt verfolgen werde. (Band 3: In der Stille des Waldes)

Eine kurzweilig und spannende Ermittlungsjagd für alle, die etwas Brutalität vertragen können.

Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 26.01.2022
Verlag:  FISCHER Taschenbuch
ISBN: 978-3-596-70546-7
Taschenbuch
Seiten: 432





Schach unter dem Vulkan von Håkan Nesser



Ein berühmter Kriminalroman-Autor verschwindet spurlos und hinterlässt ein Manuskript mit dem passenden Titel "Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers". Fast zeitnah wird auch nach einer Lyrikerin gesucht, die ähnliche Aufzeichnungen wie Franz J. Lunde hinterlässt. Erste Untersuchungen verlaufen ins Leere und fast wären daraus cold cases geworden. Doch dann gibt es eine neue Spur. 


Håkan Nesser setzt mit diesem Roman die Reihe rund um Kommissar Barbarotti erfolgreich und wortgewandt fort. Dieses Mal greift er zu einem besonderen Stilmittel und lässt die Protagonisten ihre Geschichte in einer Geschichte erzählen. Klingt verwirrend, ist es anfänglich auch. Der Einstieg wirkte selbst auf mich als eingefleischten Nesser Fan schwergängig und von der Lesbarkeit herausfordernd. 
 
Der Autor Franz J. Lunde arbeitet an seinem Manuskript über den Tod eines Schriftstellers. Dabei sind die Parallelen zu seinem eigenen Leben offensichtlich und teilweise verwischt sich Fiktion mit Realität. Nachdem man sich an den Schreibstil gewöhnt und gefunden hat, taucht dann die Lyrikerin Maria Green auf, deren Geschichte ähnlich dargestellt wird. Hier schreibt die Protagonistin Tagebuch und Gedanken und Handlung verwischen. 
 
Die Frage, wann wird der Roman zum Krimi, schwebt förmlich Seite für Seite über der Handlung. Aber nichts passiert. Sehr spät tritt erst Kommissar Barbarotti in die Handlung ein und diesmal auch ein wenig melancholisch und düster. Seine Kollegin und Lebensgefährtin, die ihn in anderen Fällen begleitet, weil diesmal in Australien bei ihrem Sohn. Ein angespanntes Gefühl schwebt über den beiden Personen, ohne das man es greifen könnte. 
 
Was mich tatsächlich sehr gestört hat, sind die vielen aktuellen Hinweise auf die Pandemie. Ich kann verstehen, dass Autoren das Thema aufgreifen. Aber wir befinden uns mitten in dieser Krise, und tatsächlich hat mich die Erwähnung von Abstandsregeln, Masken und ähnlichen Dingen von der Handlung abgelenkt. Diese Ausnahmesituation ist überall so präsent, da möchte man wenigstens im Roman davor flüchten. 
 
Trotz der dunklen Stimmung wird man in die Handlung hineingezogen, möchte den Fall lösen und findet doch keinen Ansatz, was passiert sein kann. Es gibt viele Andeutungen, doch keine Hinweise. Wieder einmal gekonnt rekonstruiert und bis ins kleinste Detail durchdacht, überrascht der Roman am Ende und fördert Erstaunliches zutage.
 
Für mich ist es nicht der beste Fall von Kommissar Barbarotti, auf jeden Fall aber ein gelungener Håkan Nesser Roman, den ich empfehlen kann. 
 
Von mir gibt es 4 von 5 Punkten
 

Buchinformationen
Erschienen: 04.10.2021
Verlag:  btb Verlag
ISBN: 978-3-442-75936-1
Fester Umschlag
Seiten: 432