Freitag, 27. Januar 2023

Über die See von Mariette Navarro


Mitten auf dem Atlantik verlässt die Mannschaft das Containerschiff und lässt die Kapitänin allein zurück. Ihr Ziel: Einmal fern von allem mitten im Ozean zu schwimmen. Die Zeit scheint still zu stehen, bis sie zurück an Bord sind und ihre Arbeit wieder aufnehmen. Doch etwas hat sich verändert und alle spüren es.  


Mariette Navarros Debütroman kommt eindrucksvoll, poetisch und bildstark daher. Ihre Protagonisten benötigen dazu keine Namen, sondern nur Rangbezeichnungen. Die 38-jährige Kapitänin ist von der ersten Seite an sehr präsent, wirkt souverän und erfahren. Sich selbst bezeichnet sie als vom "Land Verstoßene", die sich nur auf dem Meer zu Hause fühlt. Man traut ihr zu, dass sie ihre 20-köpfige Crew im Griff hat und einen Frachter zu führen versteht. 

Um so erstaunlicher ist es, dass sie ihrer Mannschaft eine unglaubliche Bitte zugesteht. Die Männer wollen mitten im Ozean schwimmen. Die Beschreibungen der Szenerie wirken wie kleine Gemälde, die man lange betrachten kann und immer Neues entdeckt. Man sieht 20 nackte, ausgelassene Männer, die vor Übermut jauchzen und mit starken Schwimmzügen ihre Kräfte testen. 

 "Man zerreißt das Wasser nicht wie ein Stück Stoff, hinterlässt keinen Abdruck wie im Sand oder Schnee. Wer ins Wasser taucht, ist zur Unsichtbarkeit verdammt."

Die Stimmung kippt, als jeder für sich entdeckt, wie klein und allein er inmitten der Untiefen ist. Plötzlich verweigern Wellen die Sicht auf das Rettungsboot und erst als alle wieder an Bord sind, können sie ihr Abenteuer kaum fassen. 

Der gekonnte Perspektivenwandel lässt die Szene noch eindringlicher wirken. Die Kapitänin an Bord, die ihre spontane Entscheidung anzweifelt und sich nicht sicher sein kann, ob die Mannschaft vollzählig zurückkehren wird. 

Die Seeleute zählen ihre Reihen durch und stellen mit Erstaunen eine Zahl fest, die nicht stimmen kann. Ab hier wird die Handlung fast mystisch und genauso undurchdringbar wie der Nebel, der sich wie ein Vorhang dicht um das Schiff legt. Selbst die Motoren kommen nicht dagegen an. Der Frachter wird immer langsamer und mit ihm der Verstand der Kapitänin. Fast wie ein unterschwelliger Spuk, bei dem man jederzeit auf etwas Schlimmes wartet. 

Sie spürt den ungleichmäßigen Rhythmus des Schiffes und spricht besänftigend mit diesem Metall-Koloss, gibt ihm etwas Lebendiges. Zum Ende stellen sich immer mehr Fragen. Was passiert wirklich oder entspringt nur der Fantasie. Der Autorin gelingt es, die Handlung genauso langsam auslaufen zu lassen, wie die Motoren an Kraft verlieren. 

Dieser Roman ist eine überraschende Gefühlsachterbahn in leisen Tönen. Ein Leseerlebnis. 

Von mir gibt es 4 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 24.08.2022
Verlag:  Kunstmann Verlag
ISBN: 978-3-95614-510-0
Fester Umschlag
Seiten: 160





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