Dienstag, 25. April 2023

Die spürst du nicht von Daniel Glattauer


Der Toskana-Urlaub der Familien Binder und Strobl-Marinek endet, bevor er richtig begonnen hat. Die 14-jährige Sophie Luise möchte als Begleitung unbedingt ihre gleichaltrige Schulfreundin Aayana mitnehmen. Der tragische Schicksalsschlag, der sich daraus ergibt, hallt noch lange nach und findet großes mediales Interesse. Spätestens jetzt fragt man sich, ob es hier noch um ein Menschenleben geht?  


Daniel Glattauer versteht es, mit verschiedenen Stilmitteln die Lesenden zu fesseln. Die Anfangsszenen wirken wie ein Drehbuch. Das Setting in der Toskana vermittelt sofort ein Gefühl dafür, mit wem man es im weiteren Geschehen der Handlung zu tun bekommt. Die Charaktere werden überdeutlich, fast schon überzeichnet dargestellt. Mir war es ein wenig zu dick aufgetragen, wie manche Protagonisten schon fast ins Lächerliche gezogen wurden. Gewinner- und Verlierertypen werden messerscharf herausgearbeitet, um auf unzumutbare Missstände in der Gesellschaft hinzuweisen. 

Eine weitere Erzählebene sind Kommentare und Posts im Internet sowie Pressenachrichten. Dadurch hat man das Gefühl, immer direkt am aktuellen Geschehen teilzunehmen. Und natürlich bildet man sich dadurch eine eigene Meinung und wird Teil der Community. 

Eine besondere Brisanz bekommt die Story dadurch, dass die Nationalratsvorsitzende Elisa Strobl-Marinek das somalische Flüchtlingsmädchen im Namen ihrer Tochter Sophie-Luise eingeladen hat, zusammen mit ihrer Familie in den Urlaub zu fahren. Als es zur Gerichtsverhandlung kommt, stürzen sich Medien und Voyeure auf den Fall. Natürlich darf auch ein selbstherrlicher, rhetorisch brillanter Staranwalt nicht fehlen. Er beruhigt die beteiligten Familien mit den Worten:
 "Wir wollen Frieden haben. Wir wollen wieder zurück in unser normales Leben finden. Wir wollen nicht mehr an das schreckliche Unglück denken müssen. Wir wollen, dass unsere Kinder wieder gut schlafen können."
Der Autor versteht es, mit kleinen Andeutungen auf wichtige Dinge hinzuweisen. Man muss zwischen den Zeilen lesen, um das ganze Ausmaß an Unterlassung, Arroganz und Blindheit zu erkennen. 

Sehr berührend und furchtbar wird es, als Aayanas Mutter vor Gericht gehört wird. Nach meinem Verständnis benutzt der Autor diese Szene aber nur als Stilmittel. Bisher blieb die Familie Ahmed unsichtbar. Es muss erst ins Detail gegangen werden, damit man sich vorstellen kann, was diese Familie erlitten hat. Dabei wissen wir alle nur zu gut, wie beschwerlich und grausam die Flucht aus Afrika für hilflose Menschen aussieht. Die Nachrichten sind voll von untergegangenen Flüchtlingsbooten, hungernden Kindern und menschenunwürdigen Lagern. 

Was mich gestört hat, sind viele ungeklärte Situationen, die teilweise nicht einmal erforderlich waren. Der Roman wäre auch ohne die Affäre des Staranwalts mit der Richterin ausgekommen. Weniger wäre mehr gewesen. 

Es fühlt sich beim Lesen so an, als würde unsere ganze Gesellschaft auf der Anklagebank sitzen. Die Bewertung ist mir nicht leicht gefallen. Auf der einen Seite legt der Autor genau an die richtige Stelle den Finger in die Wunde, andererseits verläuft sich die Handlung teilweise in verstörende Zufallssituationen. Die Eindringlichkeit und Gewichtung des Themas geht dadurch eindeutig verloren. Die Handlung mit Stilmitteln aus Pressematerial und Chats zu verknüpfen, finde ich dagegen sehr gelungen und realitätsnah.

Von mir gibt es 3,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 20.03.2023
Verlag:  Zsolnay, Paul
ISBN: 9783552073333
Fester Umschlag
Seiten: 304 



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