Dienstag, 8. Dezember 2020

Zugvögel von Charlotte McConaghy

    Erscheinungsdatum: 26.08.2020    
    Verlag:
FISCHER E-Book     ISBN: 978-3-10-491141-0    
     ebook:
400 Seiten     Leseprobe    
     Meine Bewertung:
5 von 5 Punkten 
In ferner Zukunft machen sich die letzten Zugvögel unserer Welt auf ihre anstrengende Reise von der Arktis in die Antarktis. Ornithologin Franny Lynch will den Küstenseeschwalben auf Ihrer Reise folgen. Verzweifelt sucht sie ein Schiff, um die Vögel begleiten zu können. Was als Forschungsreise beginnt, entwickelt sich nicht nur für Franny zu einem dramatischen Kampf ums Überleben, denn auch Hochseefischer-Kapitän Ennis hat eine Mission zu erfüllen.
Charlotte McConaghy hat einen wundervollen Schreibstil, der Gefühle und Bilder malt. Dieser Debützukunftsroman hat Sogwirkung. Icherzählerin Franny polarisiert. Eine außergewöhnliche Frau. Wild, ruhelos und so verletzlich, mit einem traumwandlerisch festen Ziel vor Augen. In Rückblicken erfährt man Puzzleteil für Puzzleteil, was sich in ihrer Vergangenheit zugetragen hat. Ihre Sehnsucht nach dem Meer, ihre Unruhe an einem Ort zu bleiben, ihre Liebe zu Ehemann Niall. Obwohl sie ihren Mann so sehr liebt, tragen ihre Wanderfüße sie immer wieder von ihm fort. Vergisst sie das Hier und Jetzt und lässt sich treiben. Man spürt immer deutlicher, etwas Schreckliches ist geschehen. Sie war im Gefängnis, soll jemanden getötet haben. Aber so sehr man sich auch den Kopf zermartert, man kommt einfach nicht näher an dieses Unglück heran.
"Wenn ich in der Antarktis angekommen bin und meine Wanderung beendet ist, dann werde ich sterben."

Franny muss sich ihre Mitfahrgelegenheit auf dem Hochseefischer hart erarbeiten. Die Arbeit auf dem Schiff ist schmerzhaft gut beschrieben. Trotz ihrer blutenden Hände übt sie Knoten um Knoten, um später beim Goldenen Fang wirklich eine Hilfe sein zu können. Unerbittlich achtet dieser bunt zusammengewürfelte Menschenschlag einer Crew darauf, dass sie ihren Aufgaben nachkommt. Diese Crew ist rau, aber jeder für sich ein besonderer lebensechter Charakter und spürbar beschrieben. 

Als das Trinkwasser knapp wird und der Stromgenerator ausfällt, liegt Meuterei in der Luft. Die Wut und Erschütterung der Mannschaft ist förmlich greifbar. Denn obwohl der Sender an der Schwalbe schon längst kein Signal mehr sendet, lässt Ennis vom selbstmörderischen Unterfangen nicht ab.  

"Man kann die Wirkung eines Lebens an dem messen, was es gibt und was es hinterlässt, aber man kann sie auch an dem messen, was es der Welt wegnimmt."

Der Handlungsbogen wird geschickt aufgebaut und fast atemlos verfolgt man die Reise ins Ungewisse. Denn wohin diese Reise führen soll, erklärt sich nicht. Was geschieht, wenn die Vögel gefunden werden. Frannys Ziel bleibt bis zum Ende verborgen und wird dramatisch aufgelöst. 

Verbunden mit einer Liebesgeschichte, die weit über Begreifbares hinaus und ans Herz geht, trifft die Handlung genau den Zeitgeist. Das vermutlich unaufhaltsame Arten- und Natursterben wird auf eindringliche Art in diesem Roman deutlich gemacht. 

Auf den nächsten Roman der Autorin darf man gespannt sein.  

Freitag, 4. Dezember 2020

City of Girls von Elizabeth Gilbert

    Erscheinungsdatum: 27.05.2020    Verlag: FISCHER 
    ISBN:
9783104036526     ebook: 496 Seiten     Leseprobe  
    Meine Bewertung:
4,5 von 5 Punkten 
Das College interessiert Vivian Morris herzlich wenig. Genervt von seiner renitenten Tochter entlässt ihr Vater die 19-Jährige im Sommer 1940 zu ihrer Tante Peg nach New York. Die aus wohlbehütetem und spießigen Bürgertum stammende Vivian staunt nicht schlecht, als sie das Revuetheater ihrer Tante auf dem Times Square betritt. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Überlebenskünstlern geht hier ein und aus. Mit Revuegirl Celia verbindet Vivian eine enge Freundschaft. Mit ihr lernt sie das Nachtleben mit all seinen bunten und schäbigen Facetten kennen. Trunken von Musik, Cocktails und langen, heißen Nächten genießt sie das Leben in vollen Zügen in einer nicht endenden Party, bis der Krieg dem wilden Leben ein Ende bereitet.

Elizabeth Gilbert lässt Vivian als alte Frau ihr Leben sprichwörtlich Revue passieren. Von Anfang an hatte ich das Bild eines Hollywood-Films voller Glitzer, Unterhaltung, schöner Menschen und Leidenschaft im Kopf. Vivian ist jung, naiv, verzogen und draufgängerisch. Ihre mitreißende Art und die Leidenschaft, Dinge anzugehen, macht Spaß zu lesen.

"In jenem Sommer suchen wir förmlich nach Scherereien, und wir hatten nicht die geringsten Schwierigkeiten, welche zu finden"
Im Vordergrund stehen die unterschiedlichsten Frauen, die ihr Leben allein in den 40er-Jahren meistern müssen. Als Rahmen dient ein altes, in die Jahre gekommenes, verstaubtes Revuetheater, das die untere Arbeiterschicht zu unterhalten versucht. 

Tante Peg, lebenslustig, schwermütig und gezeichnet vom Leben, versucht mit allen Mitteln, dem Theater alten Glanz zu verleihen. Insgeheim kann sie ihre Liebe des Lebens nicht loslassen, obwohl sie schon lange voneinander getrennt leben.
Die an eine verbitterte Gouvernante erinnernde Geschäftspartnerin von Peg, die jeden Cent Tag für Tag zählt und dem drohenden Bankrott nichts entgegenzusetzen hat. Aber wie ein Fels in der Brandung an Pegs Seite steht und für Vivian eine Schlüsselfigur wird.
Wunderschöne, blutjunge Revuegirls, die sehnsüchtig darauf hoffen, entdeckt zu werden, tanzen sich die Seele aus dem Leib. Doch mehr als ein schönes Anhängsel für einen alten Geldsack werden sie meistens nicht.
Ein junges Mädchen in einem Secondhandklamotten-Laden, das für ihre Eltern schuftet. Völlig unscheinbar, übersehen und fast schon verachtenswert, mit einem hellen Verstand und kreativen, wundervollen Ideen. 

Der Wandel vom glitzernden New York in eine kriegsgebeutelte Stadt wird gut herausgearbeitet. Plötzlich wirken die Protagonistinnen erwachsen, überlegt und wenig kapriziös. Jede für sich hat ihr Päckchen zu tragen und nicht immer ist vorhersehbar, wohin sie das Leben führt. 

Am Ende fast schon melancholisch schön, ist man rundherum gut unterhalten worden.