Mittwoch, 13. April 2022

Was es braucht in der Nacht von Laurent Petitmangin


Ein alleinerziehender Vater muss hilflos mit ansehen, wie sein heranwachsender ältester Sohn in rechtsextreme Kreise gerät und ihm entgleitet. Eingreifen oder schweigen, was soll er tun. Er hofft, den Jungen, den er großgezogen hat, wiederzufinden, doch ein einziger Moment verändert alles in ihrem Leben.  


Laurent Petitmangin hat mit seinem Debüt ein ausdrucksstarkes beeindruckendes Gänsehaut-Leseerlebnis geschaffen. Hier spricht ein vom Schicksal geschlagener Vater und legt seine tiefsten Gefühle den LeserInnen schonungslos offen. Dieser namenlose Mann hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Als seine Frau mit 44 Jahren an Krebs erkrankt, muss er sich um seine Söhne Fus, 10 und Gillou, 7 Jahre alt, allein kümmern. Ihr Tod lässt keine Zeit für Trauer, der Vater muss funktionieren. 

Immer wenn er nicht weiter weiß, spricht er im Gedanken mit "Mutti", doch die Antwort bleibt aus. Die anfänglichen Familienausflüge werden weniger und die beiden Brüder sind sich selbst überlassen. Fus findet sich in der Schule nicht mehr zurecht; er sucht außerhalb der Familie Halt, den ihm eine rechtsextreme Gruppierung zu geben scheint. Die Scham über den fehlgeleiteten Sohn wandelt sich in Resignation, als er selbst von den Nachbarn mehr oder weniger nur ein Schulterzucken über die Nähe des Sohnes zur Front National erfährt. 

Fortan schweigen Vater und Sohn, auch wenn es den Vater innerlich zerreißt. 

 "Die ganze Wut blieb in mir drin, schnürte mir die Brust zu, verbrannte meine Lungen, aber sie platzte nirgendwo heraus. Im Gegenteil, meine Beine fühlten sich auf einmal an wie Watte, meine Arme nutzlos und paralysiert."

Jeder weitere Leseabschnitt zieht nicht nur Fus, seinen Bruder und den Vater immer näher an den Abgrund, sondern auch die LeserInnen. Man möchte den Vater an den Schultern rütteln und rufen: "Wach doch endlich auf, tu was". Man fühlt so sehr mit den Protagonisten und ist sich der Ohnmacht der Situation bewusst. 

 "Das unser aller Leben, trotz seiner scheinbaren Geradlinigkeit, nur aus glücklichen oder unglücklichen Fügungen, zufälligen Begegnungen und verpassten Gelegenheiten bestand. Unser Leben war voll von diesen Nichtigkeiten, die uns, je nachdem, was uns sicher geschah, zu Königen der Welt oder Sträflingen machten."

Tatsächlich habe ich bis zum Schluss in Fus einen von den "Guten" gesehen. Seine Bemühungen um seinen Bruder Gillou sind herzlich, die ruhige Stimmung, die er verbreitet, strahlt Harmonie aus. Man kann nicht glauben, warum dieser sympathische Mann sich von offensichtlich extrem orientierten Menschen beeinflussen lässt. 

Passend zur französischen Präsidentschaftswahl 2022 kann dieser Roman nicht aktueller und brisanter sein. Unterschwellig eingeflochtene gesellschaftskritische Anmerkungen zur Unzufriedenheit der ländlichen Bevölkerung und der Arbeiterklassen sowie die Ohnmacht der Parteien zeigen einen möglichen Aspekt auf, warum es zu diesem schicksalhaften Wendepunkt im Leben der Familie kam. 

Dieser Roman endet nicht, nachdem man den Buchdeckel geschlossen hat. Das Warum hallt nach und hinterlässt ein flaues Gefühl. Unbedingt lesen!

Von mir gibt es 5 von 5 Punkten


Buchinformationen
Erschienen: 16.03.2022
Verlag:  dtv Verlag
ISBN: 978-3-423-29012-8
Fester Umschlag
Seiten: 160





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