Sonntag, 14. November 2021

Wenn ich wiederkomme von Marco Balzano


Ohne vorherige Ankündigung verlässt Daniela ihre Familie in Rumänien, um als illegale Pflegekraft in Italien zu arbeiten. Sie möchte sich und ihren Kinder ein besseres Leben ermöglichen. Besonders der zwölfjährige Manuel kommt mit der neuen Situation nur schwer zurecht. Als Filip, der Vater auch noch eine Stelle als LKW-Fahrer im Ausland annimmt, sind die Geschwister auf sich allein gestellt. Angelica als große Schwester muss sich neben ihrem Studium um den jüngeren Bruder kümmern, der ihr mehr und mehr entgleitet. Erst als Manuel einen schweren Unfall erleidet, kehrt seine Mutter zurück und setzt sich mit der Situation auseinander.  


Marco Balzano verbindet seinen leichten ruhigen Schreibstil mit einem brisanten Thema. Die Überalterung der Gesellschaft ist schon lange ein Thema. Die damit verbundene Pflegesituation wird aber selten so deutlich wie in diesem Roman behandelt. Ich hätte mir gewünscht, dass der Autor sein Nachwort als Vorwort verfasst hätte. Denn die realen Hintergründe zur Handlung haben mich weitaus mehr berührt, als der Roman es konnte. Es geht um rumänische Frauen, die vor der Armut im eigenen Land in die berufliche Illegalität Italiens flüchten und dort in eine belastende Situation geraten, die sie von den eigenen Familien entfremdet. Frauen, die niemals als Pflegekraft ausgebildet wurden und ganz andere berufliche Werdegänge haben, verdingen sich als billige Arbeitskräfte, um ihre Familien finanziell zu unterstützten. Dabei verlieren sie sich selbst und nicht selten enden sie im Burn-out oder Depressionen. 

In mehreren Zeitebenen und dreistimmiger Ich-Perspektive schildert der Autor den Alltag einer dieser Familien. Daniela verlässt ihre Familie und kurze Zeit später ist der Vater auch im Ausland verschwunden. Manuel ist der erste Erzähler, der seinen Alltag beschreibt. Obwohl seine Mutter ihm eine gute Schule ermöglicht und ihn jeden Tag anruft, wird die Verbindung zu seiner Mutter immer schwieriger. Nur sein Großvater gibt ihm ein wenig Halt und Zuwendung. Nachdem seine Mutter bereits vier Jahre in Italien verbracht hat, verursacht Manuel einen Unfall. Ob er diesen absichtlich verursacht hat, um seine Einsamkeit zu beenden, bleibt unklar.

 "Das Moped ist ins Schlingern geraten, und ich flog über die offene, baumlose Landschaft. Weit oben, schwebend wie eine Feder, ohne den Lenker loszulassen."

Die Schilderung von Daniela am Bett von im Koma liegenden Manuel bildet den Hauptstrang des Romans und hat mich am meisten berührt. Ungeschönt und eindringlich schildert sie ihrem Sohn rückblickend, was sie in Italien ertragen musste. Fast 24 Stunden kümmerte sie sich u. a. um einen alten Mann, der nur böse Worte und Abneigung für sie erübrigt hat. Besonders die wohnliche Nähe, die nie endende Bereitschaft und die erniedrigende Art, wie mit ihr gesprochen wird, haben mich getroffen. Ihre Schuldgefühle ihren Kindern gegenüber werden bei jedem kurzen, gefühllosen Telefonat mit ihnen größer und doch findet sie keinen Weg aus ihrer Situation heraus.

 "Ich kann nur Fotos anschauen, auf denen ich noch eine Mutter bin."

Der letzte Abschnitt wird aus Angelicas Sicht erzählt. Die ältere Tochter wirkt trotz all ihrer Aktivitäten eher blass und zurückgenommen. Auch sie will zusammen mit ihrem Ehemann direkt nach der Hochzeit das Land verlassen. Auf der Hochzeitsfeier keimt ein kurzer Hoffnungsschimmer für die Familie auf. Es bleibt aber doch der Eindruck, dass Flucht die einzige Möglichkeit in diesem Land ist. 

Mich hat dieser Roman noch lange begleitet und auch für das Thema Pflegearbeit sensibilisiert. Bisher habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, wie das Leben ausländischer Pflegekräfte aussehen mag. Orte, die von allen verlassen werden und nur von Kindern und Alten bewohnt werden, bieten keine Chance zur Rückkehr. 

Von mir gibt es 4,5 von 5 Punkten

Buchinformationen
Erschienen: 29.09.2021
Verlag:  Diogenes
ISBN: 9783257071702
Fester Umschlag
Seiten: 320

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